Herzlahm

Predigt zu Mt 9,9-13 am 27. Januar 2021

Karteikarten, ehemalige Gestapoleitstelle in Düsseldorf © Weißkunig / Wikipedia Commons

von Kathrin Oxen

Da sitzt er in seiner Dienststelle. Die Wände sind bis zur halben Höhe gestrichen. Ein Tisch und ein Stuhl. Sein Stuhl. Wer hierherkommt und sein Anliegen vorbringt, bleibt sowieso stehen, ganz automatisch, einige Schritte vor seinem Tisch. Denn hinter ihm an der Wand ist ja das Bild. Da ist der zu sehen, in dessen Namen hier gehandelt wird. Gut, wenn der Blick gleich darauf fällt. Wer vor dem Tisch steht, weiß gleich, mit wem er es hier zu tun hat. Wer vor dem Tisch steht, wartet, bis er angesprochen wird, auch wenn es endlose Minuten dauert. Dann liegt der Vorgang endlich auf dem Tisch. Noch das Schreibgerät zur Hand, nein, da muss noch einmal nachgefüllt werden. Noch einige endlose Minuten, dann beginnt er. Und schneidet gleich den Wortstrom ab, der ihm entgegen quillt, sich aufgestaut hat in diesen endlosen Minuten.

„Die Fragen stellen wir“. Ein unverwechselbarer Ton. Wenn du denkst, wir wären hier allein, irrst du dich. Hinter mir stehen viele, ein ganzer Apparat, in dessen Getriebe du im Nu geraten kannst, wenn du nicht sehr vorsichtig bist. Denn ich habe die Verbindungen, nach oben zur nächsten Ebene und wenn es sein muss, auch noch weiter. Also, antworte, wer, was, wann, wie viele, warum. Noch einmal endlose Minuten, dann der Stempel, endlich. Die Ewigkeit, bis der Abdruck nicht mehr verwischen kann und das Papier über den Tisch gereicht wird.

Die Dienststelle, der Tisch, der Stuhl, dahinter an der Wand das Bild. Ein Mensch verschwindet in diesem Ensemble, wird Teil eines Ganzen. Ein kleines Glied in der langen Kette der Anordnungen und Anweisungen, ein Rädchen im Getriebe, ein Schreibtischtäter. Nur ein Häkchen auf einer Liste. Vielleicht wird es zu einem Kreuz hinter einem Namen. Weit entfernt von der Dienststelle wird das sein. Aber es ist das Erste, was getan werden muss, damit das Letzte geschieht.

Die rote Sandale mit dem braunen Abdruck, den winzige Kinderzehen auf der weißen Ledersohle hinterlassen haben. Vor sieben Jahrzehnten war das, eins, zwei, drei, vier, fünf kleine Zehen. Das Mädchen, das das Schühchen trug, erstickte draußen in einer der Gaskammern von Birkenau.

Und es gab einen, der ihren Namen aufgeschrieben hat und ihr Geburtsdatum und ein Häkchen dahinter gemacht in seiner Dienststelle, tausend Kilometer entfernt. Vor sieben Jahrzehnten war das und hat mit mir nichts zu tun. Mir tut das Herz weh, wenn ich daran denke. Das ist, weil ich weiß, wie Sandalen nach dem Sommer aussehen und wie klein Kinderzehen sind. Mir tut das Herz weh, wenn an die Dienststelle denke, in der das Erste getan wurde. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Mensch.

Und als Jesus von dort weiterzog, sah er einen Mann, der Matthäus hiess, am Zoll sitzen. Und er sagt zu ihm: Folge mir! Und der stand auf und folgte ihm.

Und es geschah, als er im Haus bei Tisch saß, dass viele Zöllner und Sünder kamen und mit Jesus und seinen Jüngern bei Tisch saßen.

Ein Tisch, ein Stuhl, ein Bild an der Wand, Listen, Papiere, Stempel. Ein Mensch, der in diesem Ensemble verschwunden ist. Matthäus hat sich eingefügt. Er ist ein Teil des Systems geworden. Zu ihm müssen sie alle kommen, vor seinen Tisch treten, auf seine Fragen warten, warten, bis das Papier mit dem Stempel über den Tisch gereicht wird. Weil es viele Abgaben auf alles Mögliche gibt, passiert das nicht nur an den Grenze, bei Ein- und Ausreisen, sondern jeden Tag.

Der Zolleinnehmer in Kapernaum ist kein Beamter. Für das Recht, Steuern und Zölle auf Waren und Dienstleistungen zu erheben, hat er selbst an die Herrschenden zahlen müssen. Was er abgeben muss, ist festgelegt. Was er eintreibt, legt er deswegen gerne selber fest. Wer zu ihm kommt und vor seinen Tisch tritt, muss an sich halten. Das Bild an der Wand, das System, das ist das eine. Aber das einer von uns so ungeniert seinen Vorteil daraus zieht, das ist noch etwas anderes.

Es ist Teil der Strategie der Mächtigen, dass der Hass auf das System in den Dienststellen bleibt. Das soll so sein und funktioniert gerade dort, wo es nur einen Tisch, einen Stuhl, einen Menschen gibt. Beim Zöllner in Kapernaum, beim Blockwart, beim Hausvertrauensmann. Dort beginnt der Hass auf das System – und da ist man auch schon wieder ruhiger, wenn man endlich draußen ist.

Und dort, auf der anderen Seite des Tisches, unter dem Bild an der Wand beginnt es auch, dass ein Mensch sein Herz nicht mehr spürt, Glied einer Kette wird, Rädchen im Getriebe.

Matthäus ist so ein Mensch. Schon hat es begonnen, dass er sich hart macht gegen das Unverständnis der anderen. Wie kannst du nur, fragen die Augen derer, die vor seinem Tisch warten, du bist doch einer von uns. Er macht sein Herz hart, bis er die Blicke nicht mehr spürt. Bis er soweit ist, dass er ohne Weiteres auch den nächsten Schritt gehen könnte, in die nächste Dienststelle.

Jesus sieht Matthäus da sitzen, am Zoll. Gerade hat er einen gesund gemacht, der auf seinem Bett lag und seine Beine nicht mehr spürte. Steh auf, hebe dein Bett auf und geh heim. Das hat der getan. Und jetzt sitzt da einer auf einem Stuhl hinter seinem Tisch, in seiner Dienststelle. Der spürt sein Herz nicht mehr. Der ist ein schwererer Fall. Den kann Jesus nicht nach Hause schicken, der muss bei ihm bleiben.

Folge mir! Die schweren Fälle kommen mit Jesus. All die, die gehen und sprechen und hören und sehen können. All die, die herzgelähmt sind. Sie müssen ihren Stuhl zurückschieben und von ihrem Tisch aufstehen und weggehen von dem Bild über ihnen an der Wand, auf dem zu sehen ist, was über sie herrscht. Sie schaffen das und sie gehen mit Jesus zu dem großen Tisch mit den vielen Stühlen. Da ist Platz für solche wie sie. Das ist die Runde der Herzgelähmten, die es gerade noch geschafft haben.

Als die Pharisäer das sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Er hörte es und sprach: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Geht aber und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.

Ein Tisch und ein Stuhl, ein Bild an der Wand und ein Kreuz über der Tür. Auch ein Amtszimmer, ein Gemeindebüro kann eine Dienststelle sein, wo Menschen herzlahm werden. Die Gemeindesekretärin, die aus dem Kirchenbuch die getauften Juden herausschreibt. Ein Pfarrer, der noch rasch einen Bericht darüber verfasst, was auf dem letzten Pfarrkonvent gesprochen wurde, nachdem er mit der Predigt fertig ist. Ein Priester, der die Unterlagen für das Aufklärungsverfahren heraussuchen soll und einiges verschwinden lässt.

Auch, wer das Folge mir! schon einmal gehört hat, kann wieder herzlahm werden auf dem Weg. Auch wenn du die Gebote alle kennst und weißt, dass du Gott lieben sollst, mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand und mit all deiner Kraft und deinen Nächsten wie dich selbst – du darfst kein System daraus machen, nie, auch kein Religionssystem.

Denn wir haben kein Bild an der Wand, keinen, der über uns herrscht. Unser Gott ist nichts für Systeme, so unberechenbar, wie er ist, unberechenbar gütig, unberechenbar barmherzig. Führt keine Listen und stempelt nichts und niemanden ab, schreibt sich nicht auf, wer wie viel zu bekommen hat. Bei Gott sind die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten. Die gehen und sprechen und hören und sehen können, die Gesunden, die sind die Kranken und die Kranken sind die Gesunden.

Ein Tisch, ein Stuhl, die Wand bis zur halben Höhe gestrichen. Ein Mensch, der einen Namen aufschreibt und ein Geburtsdatum und ein Häkchen dahinter macht, vor sieben Jahrzehnten. Und die rote Sandale mit dem braunen Abdruck, den winzige Kinderzehen auf der weißen Ledersohle hinterlassen haben. Wenn dir heute das Herz weh tut beim Gedanken daran, dann ist alles gut. Dann bist du gesund.

Und dann schieb deinen Stuhl nach hinten und steh auf. Geh. Lerne.

Amen.


Kathrin Oxen