Die Barmer Theologische Erklärung aus islamischer Sicht

Von Hamideh Mohagheghi

Entlang der sechs Thesen der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 zeigt die Juristin Hamideh Mohagheghi Unterschiede und Gemeinsamkeiten christlichen und muslimischen Glaubens.

Hamideh Mohagheghi ist Juristin aus dem Iran, Vorsitzende der Muslimischen Akademie in Deutschland und Lehrbeauftragte für die Religion des Islam an der Universität Paderborn. Sie lebt seit über 25 Jahren in Deutschland und arbeitet in verschiedenen Arbeitskreisen zum interkulturellen und interreligiösen Dialog, sie ist Referentin für interreligiösen Dialog und im Vorstand des Frauennetzwerkes HUDA e.V.

Hamideh Mohagheghi: Die Barmer Theologische Erklärung aus islamischer Sicht (Auszug) (2005)

„(…) Wenn die Barmer Theologische Erklärung den Zweck erfüllte, die Kirche vor der Einflussnahme des Naziregimes zu bewahren und auch in ihrer Wirkungsgeschichte in andere Länder gewirkt hat, die Menschen zu ermutigen, sich zu erheben, ist zu überlegen, welche Bedeutung sie heute hat und in welchem Bereich sie eine Unterstützung ist. Wenn sie ein Bekenntnis ist und Einfluss auf die Meinungsbildung hat, sehe ich darin einige Aussagen, die im Gespräch mit Andersgläubigen zu erheblichen Problemen führen können.

Dafür möchte ich die Thesen einzeln durcharbeiten und Punkte ausführlicher ansprechen, die im Gespräch und Dialog mit Muslimen von Bedeutung sind und unterschiedlich verstanden werden.

Meine Ausführungen sollen erklären, in welchen Punkten mir eine theologische Annäherung nicht möglich scheint und welche für eine gemeinsame Basis für ein Zusammenleben zwischen Christen und Muslime herangezogen werden können. Im Dialog ist es unentbehrlich, offen und ehrlich über die Differenzen zu sprechen, das Selbstverständnis der Anderen wahrzunehmen und die Unterschiede mit Respekt und Anerkennung stehen zu lassen. Das Ziel des Dialoges kann nicht eine Vereinheitlichung der Religionen sein, jede Religion hat ihre Besonderheiten und Einzigartigkeiten, die zu pflegen und zu bewahren sind.

These 1
„Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ (Joh. 14,6)
„Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Mörder. Ich bin die Tür; so jemand durch mich eingeht, der wird selig werden.“ (Joh. 10,1.9)
Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.

Die Barmer Theologische Erklärung hatte nicht die Absicht, die Unterschiede oder Abgrenzungen zu anderen Religionen zu thematisieren. Dennoch beinhaltet die These 1 aus meiner Sicht eine wichtige theologische Differenz zwischen Christen und Muslimen, die im Dialog zu strittigen Diskussionen über die Christologie in den beiden Religionen führen kann.
Die Aussage im Joh. 14: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich“ ist Anspruch und Verpflichtung mit zentraler Bedeutung für die Christen. Verpflichtung liegt darin, dass die Christen in die Pflicht genommen werden, den Weg Jesu zu gehen und seinem Beispiel in ihrem Leben zu folgen.
Als Anspruch kann sie Probleme hervorrufen und Verhaltens- und Handlungsweisen legitimieren, die nicht im Sinne der Lehre von Jesus sind: Die Gläubigen aller Religionen können für sich den Anspruch erheben, den eigenen Weg als den Richtigen zu bezeichnen. Es ist nicht anklagbar, wenn man von der eigenen Religion in diesem Sinne überzeugt ist, im Gegenteil verleiht diese Überzeugung die Beständigkeit und ist eine wichtige Grundlage für die Religiosität. Der Anspruch wird zum Problem, wenn man den eigenen Weg als den einzig richtigen und verbindlich für alle versteht und den anderen als nicht würdig für die uneingeschränkte Gnade und Barmherzigkeit Gottes erklärt.
Wenn der zweite Satz „niemand kommt zum Vater denn durch mich“ in dem Sinne verstanden wird, wie es die Formulierung aussagt, bedeutet dies für mich: Jemand, der nicht im christlichen Verständnis an Jesus Christus glaubt, hat keinen Zugang zu Gott. So schließt diese Aussage die Mehrheit der Menschen aus und schränkt die Gnade Gottes und seine Erreichbarkeit eindringlich ein. Gott wird vereinnahmt und reserviert für eine bestimmte Gruppe der Menschen.

Diese Auffassung kann dazu verleiten, dass man den eigenen Weg als die alleinige Wahrheit und sich selbst als Auserwählten wahrnimmt, seine Lebensaufgabe darin sieht, den anderen mit allen Mitteln zum „rechten Weg“ zu führen. Wir wissen, dass dieses religiöse Verständnis in Religionen zu einem Überlegenheitsanspruch führte und auch großes Unheil in der Menschheitsgeschichte angerichtet hat. Mag sein, dass Ausschließung und Abgrenzung gegenüber anderen in bestimmten historischen Epochen zum Überleben notwendig waren. Wenn sie aber ein Bestandteil der Religion werden, sind die Folgen für die Menschen verheerend.

Die Ausschließung wird verstärkt durch den nächsten Satz „Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Mörder. Ich bin die Tür; so jemand durch mich eingeht, der wird selig werden.“ Wir sprechen heute vom Dialog der Religionen und von der Annäherung und dem Verständnis füreinander. Wir leben in einer Welt, in der die Menschen immer näher zueinander rücken und das Zusammenleben zwischen unterschiedlichen Religionen nicht mehr vermeidbar ist. Wie ist ein Dialog mit Dieben, Mördern und Unseligen möglich? Kann es einen Dialog in gleicher Augenhöhe geben, wenn die anderen, die nicht an Jesus in diesem Sinne glauben, als Menschen betrachtet werden, denen man nicht trauen kann, denn Diebe und Mörder sind keine vertrauenswürdigen Menschen! Sind diese Aussagen nicht ein Hindernis, den anderen als gleichwertigen Menschen anzusehen? Wenn dies die Kernaussagen des Christentums sind, würden sie nicht für einen Christen theologische Bedenken verursachen, auf andere zuzugehen und sich mit ihnen auf der gleichen Ebene zu sehen? Geht von dieser Aussage nicht ein Überlegenheitsgefühl aus, das in Begegnung mit anderen immer wieder zum Vorschein kommen kann?

Für die Muslime ist Jesus ein herausragender Prophet und Verkünder der göttlichen Lehre. Er wird im Qur’an ein Wort Gottes genannt, nicht „das eine Wort Gottes“. Darin liegt der Unterschied: Er ist zwar ein besonderer Mensch, einzigartig und Träger besonderer Fähigkeiten, neben ihm gibt es aber andere Propheten, die von Gott auserwählt waren und deren Lehre genauso legitim ist. Er wurde durch das Wort Gottes erzeugt und war Träger des Heiligen Geistes (Qur’an, Sure 4:171), hatte die Ermächtigung, Kranke zu heilen und Wunder zu vollbringen. Er erhielt von Gott eine Offenbarung, die als „Weisheit und Licht für die Menschheit“ gilt (Qur’an, Sure 5: 46).

Die Propheten im Islam waren keine Übermenschen, sondern von Gott Auserwählte, die besondere Gaben und Möglichkeiten besaßen. Sie waren vor allem Menschen, die mitten in der Gemeinschaft sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzten. Sie waren alle Gottes Geschöpfe und seine Diener, sie stehen im Qur’an gleich nebeneinander ohne eine Wertung in der Ranghöhe.

Daher kann die Aussage „das eine Wort Gottes“ in der ersten These als Herabstufung der anderen Propheten und Auserwählten Gottes verstanden werden. Sie kann es erschweren zu akzeptieren, dass es andere Propheten gegeben hat und sie alle die Aufgabe hatten, die Botschaft Gottes entsprechend der Zeit zu verkünden.

Könnte diese These nicht gerade im Jahr 1934 als eine Bestätigung instrumentalisiert werden, dass man doch zu „besseren Menschen“ gehört? Ich kann nicht beurteilen, welche Bedeutung und Wirkung diese Aussage auf Meinung und Handlung der Christen damals und heute hat. Für mich als Außenstehende bedürfen sie einer klaren Definition und theologischen Begründung, die die äußere Aussageform erklären.

These 2
„Jesus Christus ist uns gemacht von Gott zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heilung und zur Erlösung“ (1. Kor. 1,30) Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als gäbe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heilung durch ihn bedürfen.

Die Erlösung durch den Tod Jesu am Kreuz ist ein weiteres Thema, das im theologischen Diskurs und der Wahrnehmung der Muslime vom Christentum ein Diskussionspunkt ist. Für die Muslime ist die Vorstellung der Menschwerdung Gottes, um das Leid der Menschen zu erfahren, sehr fremd. Auch die Vorstellung, dass Jesus durch Leid und Tod am Kreuz die Menschen von ihren Sünden befreit hat, stößt auf Unverständnis.

Im islamischen Verständnis ist Gott der wissende Schöpfer, der die kleinsten Einzelheiten der physischen und psychischen Zustände seiner Geschöpfe kennt. Er steht ihnen nah und Sein Geist schenkt Leben in jedem einzelnen, Er ist der ständige Begleiter in allen Lebensbereichen. Seine Gnade und Barmherzigkeit umfasst alles, was existiert (Sure 7:156). Er lässt den Menschen die Möglichkeit, sich zu entscheiden und ihr Leben zu gestalten und ermöglicht ihnen Gelegenheiten, um Entscheidungen treffen zu können. Seine umfassende Kenntnis und Sein Wissen gehört zu Seinen Attributen in der islamischen Lehre; er bedarf es nicht, physisch zu erleben, wie der Mensch leidet. Die Vermenschlichung Gottes, wie sie die Muslime im Christentum wahrnehmen, ist eine wesentliche Trennlinie zwischen Christentum und Islam.

Im islamischen Verständnis ist es dem Menschen nicht möglich, das Wesen Gottes zu erfassen; dies liegt im Jenseits der menschlichen diesseitigen Möglichkeiten. Daher ist das Bild des Jesus als Gott in der Gestalt eines Menschen am Kreuz nicht für die Muslime tragbar und ebenso auch die Erklärung dafür, dass Gott durch Selbstopferung die Menschen von ihren Sünden befreit hat. Damit wird Gott personifiziert, er bekommt ein Gesicht und eine Gestalt und wird bildhaft dargestellt, auf die menschliche Sinneswahrnehmung reduziert.

Die Erlösung ist im Islam durch Gnade und Barmherzigkeit Gottes und die eigene Handlungs- und Verhaltenweise zu erreichen. Jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich, und es sind seine bewussten und aus freiem Willen durchgeführten Taten, die ihn der Erlösung näher bringen oder auch ihn von ihr entfernen. Die Hoffnung auf die Gnade Gottes ist unbeschreiblich groß, so dass der Mensch sich direkt an Gott wendet und um Vergebung für sein Fehlverhalten bittet. Niemand kann die „Sünden“ der anderen auf sich nehmen und niemand ist berechtigt, die Entscheidung zu treffen, die nur Gott zugeschrieben ist, nämlich die Sünden zu vergeben. Jeder Mensch wird frei von „Sünden“ geboren und bleibt „sündenfrei“, solange er nicht mündig ist und aus eigenem Willen und frei handelt. Jedes Individuum trägt mit Gnade und Zuspruch Gottes und die Kraft der Gemeinschaft die Verantwortung für das, was er denkt und tut.

Die These 2 der Barmer Theologischen Erklärung ist meines Erachtens eine klare Absage an Bindungen zu anderen „Herren“ und Mächten außer Gott und Jesus. Wenn auch die Aufhebung der Autorität der Nazimachthaber nicht ausdrücklich in der Erklärung genannt wird, könnte diese These bewirkt haben, sich nicht diesen Mächten zu unterwerfen sondern den Mut zu haben, sich dagegen zu stellen. Aus diesem Grund kann sie ein wichtiges Dokument des Widerstandes sein und die Aufgabe erfüllen, die die Religionen in diesem Bereich zu erfüllen haben. Durch die Bindung und Hingabe zu einem einzigen Gott wird der Mensch befreit von anderen Bindungen, die ihn verleiten. Wenn auch diese Bindung an Gott in unserer Zeit verdrängt oder gar vergessen ist, bleibt sie ein wichtiger Bestandteil des Lebens und eine positive Antriebskraft der menschlichen Handlungsweise. Gerade in unserer Zeit ist es wichtig, dass die Religionen die Kraft dieser Bindung besonders herausstellen und die Menschen ermutigen, ihr Urbedürfnis nach einer Beziehung zu einer höheren Kraft, die allen weltlichen Mächten zugrund liegt, zu bekunden.

These 3
„Lasst uns aber rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist.“ (Eph 4, 15. 16)
Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.

Die Gemeinschaft hat in allen Religionen eine wichtige Stellung. Sie beeinflusst die Identitätsbildung, nimmt den Menschen auf, gibt ihm Sicherheit und Geborgenheit. In ihr lebt und wirkt der Mensch und lernt nicht nur den individuellen Interessen nachzugehen, sondern diese auch zurückzustellen, wenn diese das allgemeine Wohl der Gemeinschaft beeinträchtigen. Der Mensch braucht die Gemeinschaft, sonst verfällt er in Einsamkeit, Isolation und egozentrische Lebensweise ohne Bindungen, die ihn auf seinem Lebensweg unterstützen.

Die Gemeinschaft kann aber auch als Hindernis für die menschliche Entwicklung werden, wenn sie mit Dogmen und unzumutbaren Regeln nicht zulässt, dass die Freiheit des Einzelnen mit dem Wohlergehen der Gemeinschaft in Einklang steht. Besonders die religiösen Gemeinschaften können diesbezüglich ein Verhängnis werden, wenn sie durch Autorität und Strenge statt Liebe und Hingabe den Menschen in die Gemeinschaft einbinden. Es ist eine wichtige Aufgabe, dass die religiöse Gemeinschaft tatsächlich Trost bietet und eine Weisung ist. Dafür müssen die religiösen Werte in der Gestaltung der Gemeinschaft Einfluss haben.

Die Verwerfung in dieser These verstehe ich als eine Absage gegenüber der gemeinschaftlichen Ordnung, die die Kirche vereinnahmen möchte. Die Kirche verteidigt ihre Werte gegenüber der weltlichen Herrschaft und proklamiert ein selbständiges Agieren nebeneinander. Die Frage bleibt, wie die Kirche auf das Belieben der Herrschenden Einfluss nehmen kann, wenn sie die ethischen und prinzipiellen Werte der Gemeinschaft vernachlässigen oder systematisch aushöhlen.

These 4
„Ihr wisst, dass die weltlichen Fürsten herrschen, und die Oberherren haben Gewalt. So soll es nicht sein unter euch; sondern so jemand will unter euch gewaltig sein, der sei euer Diener.“ (Mt. 20, 25.26)
Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, vom Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben oder geben lassen.

Der Inhalt dieser These ist meines Erachtens, außer seine Bedeutung für die kirchlichen Ämter, indirekt an die Machthaber gerichtet und ist eine Ermahnung, die Herrschaft als einen Dienst und nicht als ein Privileg zu sehen. In der Entstehungszeit dieser Erklärung ist dies ein starkes politisches Signal, nicht die Herrschaft für die Festigung der Macht zu verwenden, sondern im Dienste der Menschen.

Der Herrschende hat einen Auftrag und eine Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft, die Gemeinschaft hat die Pflicht, ihm zu folgen, solange er sich an die Regeln hält und nicht nur seine Macht und Vorteile im Auge hat. In einer Gemeinschaft ist es von enormer Bedeutung, dass unterschiedliche Kompetenzen und Aufgabenteilungen existieren, nur so kann eine Gemeinschaft funktionieren. Das Volk vertraut den Herrschenden seine Angelegenheiten an, gewährt ihnen die Freiheit, im Sinne der Interessen der Gemeinschaft zu handeln und erwartet, dass sie ihre Aufgabe in bestmöglicher Form erfüllen.

Dienst an der Menschheit gilt im Islam als Gottesdienst, und diesen hat nicht nur der Herrscher zu leisten, sondern auch die einzelnen Menschen in der Gemeinschaft. Die Lebens- und Handlungsweise jedes Einzelnen hat positive oder negative Folgen für alle Mitgeschöpfe. Daher liegt die Intention der religiösen Lebensweise darin, bewusst und bedacht zu handeln und die Konsequenzen der Taten langfristig zu überdenken. Die kurzfristig gewinnbringenden Handlungen, die das Leben der Menschen und die Schöpfung beeinträchtigen, sind im religiösen Verständnis nicht tragbar. Eine scharfe Trennung zwischen den weltlichen Angelegenheiten und gottesdienstlichen Handlungen gehört nicht zum traditionellen islamischen Verständnis. Jeder Dienst an die Menschheit ist ein Gottesdienst, ob diese vom Staat oder von den Einzelnen ausgeführt wird.

These 5
„Fürchtet Gott, ehret den König“ (1. Petr. 2, 17)
Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.

Diese These unterscheidet zwischen der Beziehung des Menschen zu Gott und zum Staat. Der Staat hat die Aufgabe und die Macht durch das Gewaltmonopol das Zusammenleben zu regeln. Im Satz „Fürchtet Gott und ehret den König!“ ist sowohl eine klare Unterscheidung als auch eine Verbindung zwischen Gott und „Kaiser“ festzustellen.

Furcht vor Gott befähigt den Menschen, seine Verantwortung bewusst wahrzunehmen und sie entsprechend auszuführen. „Die göttliche Anordnung“ überlässt „menschliche Einsicht und menschliches Vermögen“ einem Raum, in dem der Staat Gewalt androht und ausübt, um Recht und Frieden herzustellen. Die These 5 erläutert eindeutig, dass das weltliche Recht und nicht die Religion herrschen sollte. Die Kirche erinnert zwar an das Reich Gottes, sie hat aber nicht die Aufgabe, dieses Reich auf der Welt zu errichten.

Der Staat hat nicht die Aufgabe für das Heil und die Erlösung der Menschen zu sorgen, und er hat auch nicht die Aufgabe, die Wahrheit zu definieren, diese sind die Aufgaben der Kirche. Diese Unterscheidung zwischen Wirkungsbereichen der Kirche und des Staates und die Betonung, dass die Kirche nicht zu „einem Organ des Staates werden“ sollte, bedeutet in der Zeit der Entstehung der Barmer Thesen, die Kirche vor Vereinnahmung und Instrumentalisierung zu schützen.

Die Erfahrungen in der Menschheitsgeschichte zeigen, dass dort, wo die Religion zur Staatsideologie erhoben wird, eine Art Absolutismus entstehen kann, der nicht in der Lage ist, die Grundrechte der Menschen zu schützen, die nicht zur religiösen Gemeinschaft des Staates gehören. Wenn Staat und Religion zwei getrennte und selbständige Organe sein sollen, wie können sie in einer Wechselwirkung miteinander agieren, ohne dass das eine sich dem anderen wie ein „Knecht“ unterwerfen muss?

Der Islam erhebt den Anspruch, Werte und Normen für die Staatsführung anzubieten. Der Prophet Muhammad hat bekanntlich auch als weltliches Oberhaupt der Gemeinschaft gehandelt. Dies war aber nicht als Errichtung einer Staatsform zu verstehen, die für alle Zeiten relevant sein sollte.

Er war vor seiner Berufung zum Prophet als engagierter, aktiver und vertrauenswürdiger Mensch in der Gemeinschaft der Stadt Mekka bekannt. Nach seiner Berufung zum Propheten sahen die Menschen in ihm die Person, die am besten den religiösen und weltlichen Herrscher verkörpern könnte, und somit waren sie bereit, ihn auch als weltlichen Führer anzuerkennen. In dieser Funktion traf er seine Entscheidungen nach Beratung und Austausch mit anderen Menschen und handelte nicht allein und eigenmächtig, er hielt den Rat der anderen für die Regelung der weltlichen Angelegenheiten für unentbehrlich. Er sprach nicht von einem Reich Gottes, sondern von einer Gesellschaft, die auf Recht und Ethik aufgebaut war. Die religiösen Werte sollten die Fundamente einer solchen Gesellschaft sein.
Die Omayyaden, die nach den ersten vier Kalifen an die Macht kamen, haben die Macht der Gelehrten und religiösen Führer drastisch eingeschränkt und sie angewiesen, sich nur mit den religiösen Fragen, dem Jenseits und der Beziehung des Menschen zu Gott zu beschäftigen und sich nicht in die weltlichen Angelegenheiten einzumischen. Seit dieser Zeit herrschten in der islamischen Geschichte zahlreiche Machtkämpfe zwischen weltlichen und religiösen Führern.

Die Meinung der Gelehrten, die eine Trennung zwischen Religion und Staat ablehnten, wurde immer wieder von den bekannten Gelehrten, wie z.B. durch die folgende Aussage von Al-Ghazali, einem bedeutenden klassischen Rechtsgelehrten des 11. Jahrhunderts, untermauert: „Die islamische Lebensweise ist Fundament und Säule, der Staat ist ihre Verwalter und Beschützer. Alles, was kein Fundament hat, wird zerstört und alles, was keinen Beschützer hat, wird vernichtet.“

Der Islam schreibt keine Staatsform vor, er erwähnt einige Werte, die wesentliche Bestandteile eines Staates sind: die Herstellung und die Bewahrung der Gerechtigkeit und des Friedens, das Gewähren von Grundrechte für alle, die in der Gemeinschaft leben, die Durchsetzung des grundlegenden Prinzips, dass niemandem Schaden zugefügt werden darf, weder in seiner Person noch in seinem Besitz. Ein „islamischer Staat“ muss diese Aufgaben erfüllen.

Die Begriffe Demokratie und Säkularismus sind nicht in den islamischen Quellen zu finden, da sie neuzeitliche Begriffe sind. Es ist die Aufgabe der Muslime zu überprüfen, ob der Islam mit diesen Formen der Staatsführung zu vereinbaren ist. Es gibt Gelehrte, die den Garanten für die Durchführung der islamischen Prinzipien in einem Staat in der Trennung zwischen Religion und Staat sehen. Andere wiederum vertreten die Meinung, dass ein islamischer Staat nur mit Gesetzen und Anordnungen aus dem Qur’an zu führen sei, und nur die Rechtsgelehrten seien berechtigt, als Staatsorgan diese Führung zu übernehmen. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage wird in den nächsten Jahren ein wichtiger Bestandteil des theologischen Diskurses im Islam sein.

In der Staatsführung sind Werte und Normen notwendig, und die Religion kann sie anbieten und in diesem Sinne eine sinnvolle Orientierung sein und eine beratende Funktion haben. Die menschliche Einsicht und sein Vermögen, die ihn befähigen einen Staat zu führen, können durch religiöse Prinzipien aufgebaut, unterstützt und entfaltet werden. Die Religionsfreiheit und freie Ausübung der Religiosität kann aber nur ein Staat garantieren, der sich selbst nicht zu einer Religion bekennt.

These 6
„Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ (Mt. 28,20)
„Gottes Wort ist nicht gebunden“ (2.Tim. 2,9)
Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi statt und also im Dienst seines eignen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit das Wort und Werk des Herrn in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen.

Diese These hatte sicherlich das Ziel gehabt, die „Verdeutschung“ der Kirche durch Deutsche Christen zu verhindern, indem sie sich als „gerichtet an aller Völker“ erklärt. Sie erklärt aber auch die Beziehung der Kirche zu Nichtchristen und ihren Missionsauftrag, der ein wichtiger Bestandteil des christlichen Glaubens ist. Mission als Auftrag, aufzubrechen und die Nichtchristen einzuladen, hat ja bekanntlich unterschiedliche Wege im Laufe der Geschichte eingeschlagen, die nicht immer das Prinzip der „Nächstenliebe“ im Christentum als Grundlage hatten.

Der Auftrag, die Anderen einzuladen und ihnen den Zugang zu Gott zu ermöglichen, ist in den meisten Religionen mit unterschiedlicher Akzentuierung vorhanden. Der Auftrag, sich zu erheben, auf den Weg zu begeben und den anderen die Lehre näher zu bringen, wurde leider auch so verstanden, dass dies auch mit Gewalt möglich sei. Sie hat ebenso als Vorwand gedient, Herrschafts- und Machgebiete zu erweitern. Für diesen Zweck wurde sie ein Mittel der Unterdrückung und Vernichtung der anderen Traditionen und Kulturen.

Es ist ein Unterschied zu verkünden, dass der bezeugte Gott alle liebt in ihren eigenen Traditionen oder ob man sagt, dass diese Liebe nur denjenigen gewährt ist, die in einer bestimmten Religion verwurzelt sind oder bereit sind, sich darin einzugliedern. Wenn dies eine Voraussetzung und Bedingung für die Angenommenheit in Gottes Liebe wird, kann sie zu einem erheblichen Hindernis wie in der These 1 im Dialog werden.

Eine wichtige Voraussetzung für einen Dialog ist die Standhaftigkeit im eigenen Glauben und die Verbundenheit mit ihm. Erst wenn der Mensch einen festen Standpunkt hat, kann er mutig und offen den Anderen gegenübertreten und die Bereitschaft haben, mit ihnen über den Glauben zu sprechen. Aus diesem Grund ist die Barmer Erklärung wichtig: Die christlichen Glaubensprinzipien werden deutlich formuliert, und das Selbstverständnis des Menschen christlichen Glaubens dargestellt.

Der Dialog ist auch die Möglichkeit, durch Austausch und Gespräch mit anderen auf die kritischen Standpunkte aufmerksam zu werden und zu versuchen, sie zu erklären oder auch zu verändern, wenn die Kritik angebracht ist. Wichtig ist auch im Dialog, dass man nicht in Versuchung kommt, sich selbst zu leugnen, um den Anderen einen Gefallen zu tun. Denn der Zweck des Dialoges ist es, den anderen kennen zu lernen, die Gemeinsamkeiten zu entdecken und sie als Grundlage der Zusammenarbeit zu betrachten.

Ebenso müssen die Unterschiede wahrgenommen und sie mit Respekt stehen gelassen werden. Auf diesem Weg müssen wir auch lernen, Geduld zu haben und zu ertragen, wenn einige Aussagen und Praktiken der Anderen nicht der eigenen Auffassung entsprechen. Dialog ist keine Verkündigung des eigenen Glaubens, um den Anderen davon zu überzeugen, sondern ein Kennenlernen und der Versuch zu verstehen wie der Andere glaubt und danach lebt. Das Zuhören ist die wichtigste Prämisse im Dialog und regt zur Wahrnehmung und Auseinandersetzung an.

Die Barmer Theologische Erklärung kann einen Beitrag für den Dialog mit Muslimen sein, da sie die Differenzen deutlich macht, die erwähnt und bestehen bleiben können und sollen. Sie thematisiert Positionen, die in der Gestaltung der Gesellschaft von Bedeutung sind und in diesem Sinne eine hilfreiche Grundlage für die Zusammenarbeit sein kann. Sie ist sicherlich eine neue Zugangsmöglichkeit für die Muslime zum Christentum und bietet Chancen im Dialog, auch auf praktischer Ebene weiter zu kommen.“

Quelle: Jesus Christus, das eine Wort Gottes – Barmen I und der Dialog mit dem Islam
Dokumentation der Tagung am 21. und 22. Januar 2005 in Wuppertal
mit Beiträgen von Manfred Kock, Hamideh Mohagheghi, Bertold Klappert. PDF

Literaturtipp:
Dirk Chr. Siedler / Annette de Fallois / Jörgen Klußmann(Hg.)
(K)eine Chance für den Dialog?
Christen und Muslime in der pluralen Gesellschaft
Beiträge zu kontroversen Themen

Taschenbuch: 312 Seiten
Verlag: Alektor-Verlag; Auflage: 1 (17. September 2007)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3884250876
ISBN-13: 978-3884250877

Inhaltsverzeichnis als PDF

 


Dokumentation der Tagung am 21. und 22. Januar 2005 in Wuppertal

Mit Beiträgen von Manfred Kock, Hamideh Mohagheghi, Bertold Klappert, Dirk Chr. Siedler. Als PDF zum kostenlosen Download
Infos und Materialien zum ''Barmer Bekenntnis'' auf einen Blick

 

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