„Der Jesus der Evangelien – ein Jude unter Juden“

Der „irdische Jesus“ betrachtet im Licht der „Frommen“, den Chassidim der rabbinischen Tradition

In seiner Studie über „Jesus zwischen Juden und Christen“ blickt Klaus Wengst auf Jesus in Analogie zu den „Frommen“, von denen der Talmud erzählt. Hier finden Sie einen kurzen Einstieg in die Sichtweise des Bochumer Neutestamentlers.

Der "historische Jesus" und der "Jesus der Evangelien"

Die Frage: Wer war Jesus wirklich? im Sinne von: Was können wir über Jesus von Nazareth als historische Person sagen? lässt sich schnell beantworten. Jesus war Jude und wurde ungefähr im Jahre 30 in Jerusalem gekreuzigt.
Weitere Angaben über Jesus und sein Leben aus den Erzählungen der Evangelien als historische Tatsachen erschließen zu wollen, ist ein in der Forschung immer wieder unternommener Versuch. Allerdings muss sich diese Forschung den Vorwurf gefallen lassen, eine "Vermutungswissenschaft" zu sein - so der Neutestamentler Klaus Wengst: "Wer ehrlich ist, kann im Blick auf diejenigen Texte [der Evangelien], die er dem sogenannten historischen Jesus zuschreibt – oder auch abspricht – immer nur sagen: mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Besonders Mutige sagen in manchen Fällen: mit großer Wahrscheinlichkeit, gelegentlich sogar: mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Aber was dem einen als sehr wahrscheinlich erscheint, bestreitet der andere als eher unwahrscheinlich. Aus diesem Streit der Meinungen kommt man nie heraus." (Wengst, Jesus, 44f.).

Wider die Suche nach dem "historischen Jesus"
Über diese Erwägungen hinaus gibt es auch einen theologischen Grund, sich nicht an der Suche nach dem "historischen Jesus" zu beteiligen: Bei dieser Suche wird leicht das "jüdische Profil" der Erzählungen über Jesus verdeckt. Selbst wenn das Judesein Jesu nicht platt arisiert wird, bleibt die Behauptung stehen, Jesus habe – als Jude – den Boden des Judentums verlassen, jüdische Tradition gesprengt, das "alte" Judentum hinter sich gelassen. Bei dem Versuch, die Einzigartigkeit Jesu im Gegenüber zu seinen jüdischen Zeitgenossen darzustellen, gerät das Judentum "allzu leicht zur dunklen Folie, von der sich die Worte und Taten Jesu um so leuchtender abheben" (Wengst, 45).

Der Jesus der Evangelien im Licht des zeitgenössischen Judentums
Bleibt die Frage: Können wir uns auch anders als im Bekenntnis des Glaubens zu Christus dem Jesus der Evangelien nähern? Klaus Wengst schlägt vor, vom Judentum zur Zeit Jesu auszugehen und von seinem Profil her "Blicke auf die Darstellung Jesu in den Evangelien" zu werfen (Wengst, 46).

Die Chasidim, die "Frommen" zur Zeit Jesu
Dazu beschreibt Wengst die Gruppe der frühen Chasidim, der "Frommen", von denen die rabbinische Literatur erzählt. Diese "Frommen" bilden eine Gruppe innerhalb der Pharisäer. Ihr besonderes Profil lässt sich unter elf Gesichtspunkten darstellen. In der folgenden Darstellung sind die Übersetzungen der rabbinischen Überlieferung aus Wengst, Jesus, 46-57 übernommen, die Bibelzitate nach der Übersetzung Martin Luthers:

1. "Menschen der Tat"
Die Gruppe der Chasidim nennt die rabbinische Überlieferung auch "Menschen der Tat". So heißt es von Chanina ben Dosa, einem der mit Namen genannten Chasidim:
"Mit dem Tod des Rabbi Chanina ben Dosa hörten die Menschen der Tat auf" (Mischna Sota 9,15). Wie hoch Rabbi Chanina ben Dosa das Tun schätzte, zeigt eine andere Überlieferung: "Bei jedem, dessen Taten mehr sind als seine Weisheit, bleibt seine Weisheit bestehen; und bei jedem, dessen Weisheit mehr ist als seine Taten, bleibt seine Weisheit nicht bestehen." (Mischna Avot 3,9). Das Tun, die guten Taten sind wichtiger als die Weisheit, die Lehre, die richtigen Gedanken. DieserWertschätzung des Tuns entspricht Worten Jesu in den Evangelien: "Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel." (Matthäus 7,21; vgl. Lukas 6,46). Dieses Tun des Willens Gottes ist getragen vom Vertrauen auf Gott: "Wenn nun ihr, die ihr doch böse seid, dennoch euren Kindern gute Gaben geben könnt, wieviel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten!" (Matthäus 7,11). Rabbinische Tradition antwortet auf die Frage "Auf wen sollen wir uns stützen?" – "Auf unseren Vater im Himmel" (Mischna Sota 9,5).

2. Wunder und Gottesnähe
Von den Chasidim werden zahlreiche Wunder erzählt, die ihre "geradezu intime, ja manchmal sogar aufdringliche Nähe zu Gott" (Wengst, 47) zeigen. So heißt es von Choni, dem Kreiszieher:
"Man sagte zu Choni dem Kreiszieher: Bete, dass Regen falle! Er sagte zu ihnen: Geht hinaus und bringt die Pesachöfen hinein, damit sie nicht verderben! Er betet, aber es fiel kein Regen. Was tat er? Er zog einen Kreis, stellte sich mitten hinein und sprach vor ihm: Herr der Welt, Deine Kinder haben sich an mich gewandt, weil ich wie ein Hauskind vor Dir bin. Ich schwöre bei Deinem großen Namen, dass ich nicht von Dir weiche, bis dass Du Dich über Deine Kinder erbarmst. Da fing der Regen an zu tröpfeln. Er sagte: Nicht so habe ich gebeten, sondern um Regen für Zisternen, Gruben und Höhlen. Da fing der Regen an, stürmisch zu fallen. Er sagte: Nicht so habe ich gebeten, sondern um Regen des Wohlgefallens, des Segens und der Wohltat. Da fiel der Regen, wie es sich gehört, bis die Israeliten vor dem Regen aus Jerusalem hinauszogen zum Tempelberg. Sie kamen und sagten ihm: Wie du für uns gebetet hast, dass der Regen falle, so bete, dass er wieder weggehe! Er sagte ihnen: Geht hinaus und seht, ob der Verluststein aufgelöst ist! Schimon ben Schetach sandte zu ihm: Wenn du nicht Choni wärst, hätte ich über dich den Bann erlassen. Aber was kann ich dir tun? Denn du benimmst dich quengelnd vor dem Ort (= Gott), und er tut dir deinen Willen wie einem Sohn, der seinen Vater quengelt, und er tut ihm seinen Willen. Und über dich sagt die Schrift: Freuen möge sich dein Vater und deine Mutter und jubeln, die dich gebar (Sprüche 23,25)." (Mischna Traktat Taanit 3,8; vgl. Babylonischer Talmud, Traktat Taanit 23a).
Choni bittet Gott wie ein quengelndes Kind, das immer wieder auf seinem Wunsch beharrt. Analog lehrt Jesus die Glaubenden, Gott zu bitten und auch unverschämt zu drängen – wie einem Freund gegenüber, "denn wer da bittet, der empfängt" (Lukas 11,10); der "Vater im Himmel" gibt denen Gutes, "die ihn bitten" (Matthäus 7,10).

3. Wunder und Armut
Die Chasidim lebten bescheiden und zeitweise in Armut. Im Babylonischen Talmud, Traktat Taanit 24b-25a wird erzählt, wie ein Wunder geschah, und Chaninas Frau im Ofen frisches Brot für den Schabbat fand. Auch die Evangelien erzählen von Wundern zur Speisung: Aus zwei Broten und fünf Fischen werden fünftausend Hungrige satt (Markus 6,39-44).

4. Weitere Wunder von Heilung und Rettung
"Eine Geschichte. Der Sohn Rabban Gamliels war krank. Er schickte zwei Gelehrtenschüler zu Rabbi Chanina ben Dosa, um für ihn Erbarmen zu erbitten. Als der sie erblickte, stieg er hinauf zum Obergemach und erbat für ihn Erbarmen. Beim Herabsteigen sagte er ihnen: Geht, denn das Fieber hat ihn verlassen! Sie sagten ihm: Bist du denn ein Prophet? Er sagte ihnen: ‚Nicht bin ich ein Prophet, noch bin ich eines Propheten Sohn‘ (Amos 7,14), sondern so ist es mir überkommen: Wenn mein Gebet in meinem Munde fließend ist, weiß ich, dass er angenommen ist, wenn nicht, weiß ich, dass er weggerissen ist. Sie setzten sich und schrieben genau die Stunde auf. Und als sie zu Rabban Gamliel kamen, sagte er ihnen: Beim Gottesdienst! Ihr habt nichts abgezogen und nichts hinzugetan, sondern genau so geschah es. Zu dieser Stunde verließ ihn das Fieber, und er fragte nach Wasser, um zu trinken." (Babylonischer Talmud, Traktat Taanit 34b).
Ähnlich erzählen die Evangelien von wunderbaren Heilungen. Eine besondere Nähe zur Heilung des Sohnes Rabban Gamliels findet sich in der Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten (Johannes 4,46-54).

5. Macht über die Dämonen
Der fromme Chanina ben Dosa hat auch Macht über Dämonen, so erzählt im Babylonischen Talmud, Traktat Pesachim 112b: "Gehe nachts nicht allein hinaus! Es wird nämlich gelehrt: Nicht gehe man nachts allein hinaus, nicht in den Nächten des vierten Tages und nicht in den Nächten des Schabbat, weil dann Agrat, die Tochter Machlats, und 18 Myriaden Schadensengel hinausgehen; und jeder einzelne von ihnen hat das ihm eigene Recht, Schaden anzurichten. Anfangs war sie an allen Tagen anzutreffen. Einmal begegnete sie Rabbi Chanina ben Dosa. Sie sagte ihm: Wenn man im Himmel nicht über dich ausgerufen hätte, vorsichtig zu sein mit Chanina und seiner Weisung, hätte ich dich in Gefahr gebracht. Er sagte ihr: Wenn so im Himmel über mich gedacht wird, setze ich über dich fest, dass du nie mehr an bewohntem Ort umherziehst. Sie sagte ihm: Ich erbitte von dir, mir einen kleinen Bereich zu überlassen. Da überließ er ihr die Nächte des Schabbat und die Nächte des vierten Tages."
Eine Parallele zu der Begegnung Jesu mit Dämonen sieht Wengst darin, dass wie Agrat über Chanina ben Dosa Bescheid weiß, auch die Dämonen Jesus kennen (Markus 1,24), und dass, sowohl Jesus als auch Chanina den Dämonen einräumen, innerhalb der von ihnen gesetzten Grenzen zu wirken (Markus 5,10-13).

6. "Menschen der Treue"
Die Weisungen und Geschichten der Chasidim preisen Treue und Verlässlichkeit gegenüber Menschen sowie die Treue Gottes, die sich nicht verrechnen lässt. Von Rabbi Jose ist die Weisung überliefert: "Das Geld deines Mitmenschen sei dir ebenso lieb wie dein eigenes; und rüste dich, Tora zu lernen, denn sie ist dir keine Erbschaft; und alle deine Taten sollen um des Himmels willen geschehen."
Von Jesus sind Worte überliefert, die zu einer Taten auffordern um des Himmels willen, nicht um des Ansehens vor Menschen willen: "und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten." (Matthäus 6,18).

7. Gott zuerst!
Die Gottesfurcht der "Frommen" ist erhaben über die Furcht vor weltlichen Herrschern: "Eine Geschichte über einen Frommen. Er betete unterwegs. Es kam ein Fürst und entbot ihm den Gruß. Aber er erwiderte ihm den Gruß nicht. Da wartete er, bis er sein Gebet beendet hatte. Danach, als er sein Gebet beendet hatte, sprach er zu ihm: Hohlkopf! Steht denn in eurer Tora nicht geschrieben: ‚Sei nur auf der Hut, und hüte dein Leben (5Mose 4,9)? Und es steht geschrieben: ‚Und seid sehr auf der Hut für euer Leben!‘ (5Mose 4,15) Als ich dir den Gruß entbot, warum hast du mir den Gruß nicht erwidert? Wenn ich dir den Kopf mit dem Schwert abschnitte, wer würde dein Blut von meiner Hand fordern? Er sagte ihm. Warte, bis ich dich mit Worten besänftige! Er sagte ihm: Wenn du vor einem König von Fleisch und Blut stündest und es käme dein Freund und böte dir den Gruß, würdest du ihm ihn erwidern? Er sagte ihm: Nein. Und wenn du ihm ihn erwidern würdest, was würde man mit dir tun? Er sagte ihm: Man würde mir meinen Kopf mit dem Schwert abschneiden. Er sagte ihm: Ist es nicht so, dass man vom Leichten auf das Schwere folgern kann? Wenn schon du, falls du vor einem König aus Fleisch und Blut stündest, der heute hier und morgen im Grab ist, so handelst, um wieviel mehr ich, der ich vor dem König der Könige, dem Heiligen, gesegnet er, stand, der lebt und bleibt in alle Weltzeiten?! Da war dieser Fürst sofort besänftigt, und der Fromme verabschiedete sich in Frieden zu seinem Haus." (Babylonischer Talmud, Traktat Berachot 32b-33a).
Auch Jesus fürchtet sich nicht vor Herodes, der ihn töten will, nennt ihn einen "Fuchs" (Lukas 13,32) und tut, was er dem Willen Gottes gehorchend tun muss.

8. Umkehr und Sündenvergebung
Zu dem auch in den Evangelien zentralen Thema von Umkehr und Vergebung der Sünden überliefert die rabbinische Tradition u.a. eine Ausspruch des Frommen Pinchas ben Jair: "Der Heilige, gesegnet sei er, sagte: Ich habe den bösen Trieb gemacht. Nimm dich in acht, dass er dich nicht zum Verfehlen verleite! Wenn er dich zum Verfehlen verleitet hat, sei achtsam, Umkehr zu tun. Und dann will ich deine Schuld tragen. Denn es ist gesagt: ‚Ich habe es getan, ich will tragen, ich will mir aufladen und entrinnen lassen‘ (Jesaja 46,4) – vom Gericht des Gehinnom. Dementsprechend ist gesagt: ‚Glücklich, wem Vergehen getragen, Verfehlung bedeckt ist!'‘ (Psalm 32,11)." (Midrasch Tehilim 32,4 zu Psalm 32,11).

9. Verzehntung
Die Weisung, den zehnten Anteil der eigenen Habe den Armen zu geben, nahm bei den Chasiden sogar das Vieh ernst. Von der Eselin Chanina ben Dosas wird erzählt, dass sie verzehntetes und unverzehntes Futter unterscheiden konnte. Und Rabbi Pinchas ben Jair beendete eine Mäuseplage, nachdem die geplagten Leute versprochen hatten, den Zehnten zu entrichten, vgl. Wengst, 54.152. Auch Jesus fordert die Entrichtung des Zehnten als Selbstverständlichkeit neben der Aufforderung Erbarmen und Treue zu erweisen (Matthäus 23,23).

10. Schabbat
Während die "Frommen" die Heiligung des Schabbats sehr ernst nahmen, heißt es in anderer rabbinischer Tradition vom sechsten Wochentag, dem Ruhetag Gottes und der Menschen: "Er ist in eure Hand übergeben, und nicht seid ihr in seine Hand übergeben" (Babylonischer Talmud, Traktat Joma 85b). Jesus sagt – nach Markus 2,27: "Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen".

11. Reinheit
In jüdischer Tradition ist die Unterscheidung von reinen und unreinen Speisen wichtig. Dazu wird eine Geschichte von Chanina ben Dosa erzählt: Während er betet, wird Chanina von einer Giftschlange, einem unreinen Tier, gebissen. Der Fromme unterbricht das Gebet nicht, die Schlange stirbt. Chanina ben Dosa bringt die tote Schlange zum Lehrhaus und sagt: "Seht, meine Kinder, nicht die Giftschlange tötet, sondern die Verfehlung tötet" (Babylonischer Talmud, Traktat Berachot 33a).
Ein vergleichbarer Ausspruch ist von Jesus überliefert: "Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte; sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist’s, was den Menschen unrein macht" (Markus 7,15).

Als Fazit aus dieser Nebeneinanderstellung schreibt Wengst: "Wenn wir dem Jesus der Evangelien begegnen, begegnen wir einem Juden, der nicht isoliert von seinem Volk gelebt hat, sondern mitten in ihm und mit ihm. Wenn wir ihm begegnen, begegnen wir also Jüdischem und nur Jüdischem." (Wengst, 57).

Literatur
Klaus Wengst, Jesus zwischen Juden und Christen, Stuttgart, Berlin, Köln 1999


Barbara Schenck