Wo war Gott in Buchenwald?

Magdalene L. Frettlöh, Magdeburg

Befreiung des KZ Buchenwald 1945 © Wikimedia

Solange der auferweckte Gekreuzigte Gott mit der Frage konfrontiert: Warum lässt Du dies Leid zu? hat auch unsere Frage ihren Ort in Gott selbst: »Wo warst du, Gott, in Buchenwald?«

1. Wo warst du, Gott, in Buchenwald? - Die Frage nach dem Ort Gottes in dieser Welt und nach den Orten der Gottesgerechtigkeit in Buchenwald
2. Die helfende Ohnmacht des leidenden Gottes und das  Mitleiden der Menschen mit Gott
3. Die Verantwortung des Menschen für einen ohnmächtigen Gott oder der doppelte Ort eines todesmächtigen Gottes?
4. Die Auferweckung des Gekreuzigten als Unterpfand der Hoffnung auf die göttliche Zurechtbringung aller Gequälten
5. Die Kreuzesmale am Auferstehungsleib - der Ort der Theodizeefrage in einer innertrinitarischen Klagespiritualität

Wer bin ich, dass ich zu diesem Thema sprechen darf oder auch nur kann?1 Wer bin ich, dass ich gar Antworten auf diese Frage geben soll? Nein, eine Gnade der späten Geburt nehme ich nicht für mich in Anspruch. Wenn schon nicht Kollektivschuld, so empfinde ich doch zumindest Kollektivscham für diese bestialischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Verpflichtung, daran nach meinen Möglichkeiten mitzuwirken, dass es nie wieder geschieht. Doch das gibt mir noch lange nicht das Recht oder gar die Kompetenz, auf diese Frage zu antworten. Steht beides, Recht und Kompetenz, nicht allein denen zu, die in Buchenwald gequält wurden, gelitten haben und gestorben sind oder nach der Befreiung des Lagers weiterlebten, ohne aber Buchenwald je überleben zu können?!

Ich habe großen Respekt davor, wenn in Buchenwald internierte Menschen die Erfahrung gemacht haben: »Hier ist Gott!« Und es steht mir nicht einmal zu, diese ihre Antwort zu kommentieren; ich kann sie nur bezeugend erinnern.

So in etwa habe ich reagiert, als Michael Haspel mich einlud, heute Abend zu diesem Thema zu sprechen. Er hat meine Einwände respektiert, mich aber gleichwohl nicht aus der Verantwortung entlassen – mit dem Hinweis, dass ich als evangelische Theologin nun einmal die Pflicht und Schuldigkeit hätte, Menschen hier und heute mit dieser Frage nicht allein zu lassen. So stelle ich mich ihr – doch nicht um sie zu beantworten. Wer von mir eine Beantwortung dieser Frage erwartet hat, dessen Erwartungssicherheit werde ich gründlich enttäuschen.

Ich möchte die Frage »Wo war Gott in Buchenwald?« vielmehr verantworten, indem ich einige Perspektiven aufzeige, wie wir als protestantische Christinnen und Christen am Reformationstag des Jahres 2007, also 70 Jahre nach der Errichtung des Lagers, in der Kulturstadt Weimar mit dieser unbeantworteten und unsererseits unbeantwortbaren Frage leben können. Eine Antwort auf diese Frage erwarte ich allein von Gott selbst, nämlich vor dem Forum des Jüngsten Gerichts als dem Ort der Selbstrechtfertigung Gottes und der damit verbundenen Zurechtweisung und Zurechtbringung aller Geschöpfe.

Wenn es aber allein Gott selbst ist, der eine hinreichende und unserem Fragen genugtuende Antwort geben kann, dann muss diese Frage von vornherein umformuliert werden, dann kann sie angemessen nur in einem an Gott selbst adressierten Sprechakt laut werden: »Wo warst du, Gott, in Buchenwald?« Kein Reden von oder gar über Gott, nur ein Reden mit Gott kann hier letzte, überzeugende und bleibend gültige Antworten herausfordern und einklagen. Aber eben so an Gott adressiert, darf diese Frage nicht zum Verstummen kommen, muss sie – um Gottes und der Opfer und, wenn auch ganz anders, selbst um der TäterInnen willen – immer und immer wieder neu gestellt werden. Wer so fragt, nimmt keine ZuschauerInnenhaltung ein, sondern erhebt stellvertretend für die, die zum Schweigen gebracht wurden, seine Stimme. Wer so fragt, nimmt die Fragwürdigkeit Gottes selbst ernst, klagt Gott die Erfahrung der Gottesferne und vielleicht gar Gottlosigkeit, die Erfahrung unerhörter Gebete, ausgebliebener Hilfe und Rettung ...

Ich möchte dies in einem ersten, dem ausführlichsten Abschnitt meines Vortrags tun, indem ich die Frage nach dem Ort Gottes in Buchenwald auf dem Hintergrund der Lagerwirklichkeit2 konkretisiere, also diese große, vielleicht allzu große Frage in mehrere kleine ummünze, damit wir ahnen, was wir da fragen. In vier weiteren Abschnitten werde ich einige biblische, jüdische und christliche, Wege erinnern, mit der Frage nach dem Ort Gottes in Situationen lebensgefährlicher Bedrohung, unerträglichen Leidens oder offenkundiger Gottesferne
umzugehen, ohne sie zu umgehen.

1. Wo warst du, Gott, in Buchenwald? – Die Frage nach dem Ort Gottes in dieser Welt und nach Orten der Gottesgegenwart in Buchenwald

Ist es ein Zufall, dass das, was wir theologisch unter dem Stichwort Theodizeefrage kennen und was sich landläufig in die Wendung kleidet: »Wie kann Gott das zulassen?«, im Thema des heutigen Abends als Orts- und Raumfrage erscheint? Die Frage nach der Gerechtigkeit eines allmächtigen und in seinem Handeln von uns verstehbaren Gottes begegnet hier als Suche nach dem Ort Gottes (in Buchenwald). Die Frage, wo Gott ist, hängt offenbar aufs engste zusammen mit der Frage, wer Gott ist. Vom Wesen Gottes, von den Eigenschaften, vom Gottsein Gottes lässt sich nicht abgesehen von den Orten reden, an denen Gott als gegenwärtig wahrgenommen und als helfend erfahren wird. Wo Gott zu finden ist, zeigt, wer Gott ist. Dafür steht schon der Eigenname des biblischen Gottes ein:

In jener biblischen Erzählung vom brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbusch, in der Mose berufen wird, sein Volk aus dem SklavInnenhaus in Ägypten in die Freiheit und ins verheißene Land zu führen, fragt Mose Gott: »Wer bin ich, dass ich zu Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen könnte?« (2Mose 3,11). Auf die Frage des Mose nach sich selbst, antwortet Gott mit einem Versprechen: »Ich werde mit dir sein ...« Doch diese Zusage, dass Gott mit ihm sein werde, genügt Mose noch nicht. Er fragt weiter nach der namentlichen Identität des Gottes, der ihn schickt: »Wenn ich zu den Israeliten komme und ihnen sage: Der Gott eurer Väter [und Mütter] hat mich zu euch gesandt, und sie sagen zu mir: Was ist sein Name?, was soll ich ihnen dann sagen?« Es mag ja sein, dass die Väter und Mütter ihre wunderbaren Erfahrungen mit Gott gemacht haben, dass er ihre Gebote erhört und sie aus ihrer Not errettet hat, doch ist das auch die Gottheit, deren Stimme Mose aus dem Dornbusch hört? Kann und wird sie genau so wirksam helfen? Ist es noch derselbe Gott? Kann es noch unser Gott sein?

Und Gottes Antwort an Mose: »Ich werde da sein, als der/als die ich da sein werde. [...] So sollst du zu den Israeliten sagen: Ich werde da sein hat mich zu euch gesandt« (V. 14). Was für ein Name: »Ich werde da sein, als der/als die ich da sein werde.« Ist das eine Tautologie? Sagt Gott hier: »Ich bin ich und damit basta!«? Nein, dieser scheinbar so »namenlose Name« (Kornelis Heiko Miskotte) ist ein virtueller Name, ein Name voller Möglichkeiten und voller Beziehung. Was grammatikalisch identisch ist, muss noch nicht semantisch identisch: »Ich werde als die da sein, als die ich für euch da sein werde.« In jeder neuen Gegenwart will der biblische Gott derjenige sein, dessen Gegenwart Menschen aktuell und konkret als beschützendes, bewahrendes, bestärkendes Mitsein Gottes erfahren. Nur so ist Gott gestern, heute und morgen dieselbe, dass Menschen seine befreiende Präsenz leibhaftig erfahren.

»Wo warst du, Gott, in Buchenwald?« Wer nach dem spezifischen Ort Gottes in Buchenwald fragt, setzt offenbar voraus, dass Gott in Buchenwald gegenwärtig war, dass auch ein KZ nicht per se ein gottloser Ort ist. Wer so fragt, unterscheidet aber offenkundig auch zwischen Ort und Ort in Buchenwald. Die Frage rechnet nicht mit einer unterschiedslosen Gegenwart Gottes in Buchenwald. Eine dogmatische Lehre von der Omnipräsenz Gottes in der Welt hilft hier nicht weiter. Sie gibt keine Antwort auf die Erfahrung der Gottesferne an bestimmten Orten. Die Rede von einem allgegenwärtigen Gott kann schnell zu einem gleichgültigen »überall und nirgends« verkommen und dabei Gott zum Zuschauer oder zur Komplizin verbrecherischen Tuns machen.

Auch wenn Gott Himmel und Erde gehören und Gott in beiden gegenwärtig ist, ohne dass sie jeweils Gott fassen könnten (5Mose 10,14; 1Kön 8,27; Jes 66,1; 2Chron 2,5; Apg 7,48 u.ö.), gibt es gleichwohl Orte verdichteter Gottesgegenwart und Räume, aus denen Gott sich zurückzieht. Gott geht mit, zieht mit seinem Volk in Wolke und Feuersäule und im portativen Begegnungszelt durch die Wüste und als Schechina ins Exil. Aber macht dieses Mitsein nicht notwendig Halt vor denen, die ihrerseits handeln, als gäbe es Gott nicht?!

»Wo warst du, Gott, in Buchenwald?« Wie können wir sie uns vorstellen – die Gegenwart Gottes im Lager Buchenwald? Ist Gott mittendrin in den Waggonladungen von Menschen, die nach der Ankunft am Bahnhof Buchenwald den Carachoweg hinuntergetrieben werden? »Ich stehe mitten in der Kolonne. Ein Kommando erschallt: ›Rechts um – marsch!‹ Einen Augenblick später stößt mich mein Hintermann plötzlich mit voller Wucht in den Rücken und drängt mich derart nach vorn, daß ich wieder auf meinen Vordermann drängen muß. Da sehe ich, daß die SS-Leute mit Gewehrkolben und Gummiknüppeln wahllos auf uns einschlagen. Unsere Kolonne kommt ins Laufen, Schüsse knallen, Kugeln pfeifen. Wir laufen, eng aneinander gepreßt, den Carochoweg hinunter, stolpern übereinander. Wer hinfällt, wird von den Nachfolgenden niedergetrampelt. Schläge und Stöße hageln auf uns herab. Wir laufen um unser Leben, ein einziger, wüster turbulenter Haufen. Keiner weiß, wohin er laufen soll, [...] einer klammert sich an den anderen [...] Der Verstand setzt aus. Nur weg von den Schlägen und Stößen, weg von den pfeifenden Kugeln, weiter, weiter, weiter [...].«3

Lässt Gott die demütigenden und entwürdigenden Aufnahmemaßnahmen mit über sich ergehen: die Entkleidung, die »Läuseschau«, das Scheren aller Körperhaare, die sog. Desinfektion, die Aufnahme-Untersuchung, die Numerierung und Kategorisierung, die Einweisung in die Blocks? Welche Farbe trägt der Winkel Gottes? Gelb? Gewiss, aber welchen dazu? Ist Gott eher bei den violetten als bei den roten, eher bei den schwarzen als bei den grünen zu finden, und wie steht es mit denen, die braune und rosa Winkel tragen? Wo ist Gott beim morgendlichen und abendlichen Zählappell? Zu welchem Arbeitskommando wird Gott eingeteilt? Steht Gott am Montageband der Gustloff-Werke? Arbeitet Gott mit den jüdischen Mädchen am Hochofen bei Krupp – ohne Handschuhe, ohne Gesichtsschutz, mit verbrannten Augenbrauen? Muss Gott mit in den Steinbruch und bricht unter der Last der zu schleppenden Felsblöcke zusammen? Alltägliche Vernichtung auch Gottes durch Arbeit?!

Liegt Gott mit auf dem einen Strohsack, den man sich zu viert teilt, und schaut einem anderen beim Sterben zu, Auge in Auge, Haut an Haut mit jenem, dessen Name dem Weiterlebenden bald eine neue Identität sichern wird4? Oder siecht Gott schon längst typhuskrank dahin im kleinen Lager als einer der Muselmänner, deren Lebenswillen gebrochen ist und deren Blicke erloschen sind? Ist Gott als polnisches »singendes Pferd« mit vor den Karren gespannt oder gehört Gott zu den bei einer fingierten Hinrichtung wahnsinnig Gewordenen? Steht Gott mit den sowjetischen Kriegsgefangenen im sog. Arztzimmer an der Wand der Genickschussanlage?

Dürfen wir so fragen?! Können wir anders fragen, wenn wir nach dem Ort Gottes in Buchenwald fragen?! Was wäre die Alternative? Ein abwesender Gott? Ein zuschauender Gott? Nein, gewiss nicht! Aber wie ist dieses Mit-Da-Sein zu denken und auszuhalten – für uns und für Gott selbst?

Vielleicht fällt es uns leichter, uns vorzustellen, wie Gott gegenwärtig ist in der Zelle eines Paul Schneider, des unbeugsamen Predigers von Buchenwald, in den ebenso unscheinbaren wie großartigen alltäglichen Aktionen internationaler Solidarität unter den Häftlingen – im Teilen des letzten Stück Brotes, der einzig verbliebenen Zigarette, im gegenseitigen Zitieren von Gedichten, um nicht den Verstand zu verlieren, in der Aufforderung an lethargisch Gewordene, sich zu waschen, um nicht den kümmerlichen Rest Achtung vor sich selbst zu verlieren ... Wer von uns wollte sagen, dass Gott den Betenden näher war als denen, die bei der Beschallung mit Zarah Leander-Liedern masturbierten und dabei fühlten, dass ihr geschundener und ausgemergelter Leib noch lebendig ist?! Und ist Gott nicht auch und gerade bei denen, die für sich zu dem Schluss gekommen sind: »Mein Glaube ist in den Todeslagern gestorben!«? »O mein Gott, es gibt keinen Gott!«

Und woran ich mit all' diesen Konkretionen noch gar nicht gerührt habe, ist die Frage, wie es um die Gegenwart Gottes auf der Seite der TäterInnen stand, die sich in nicht geringer Zahl selbst als Christen verstanden. Ich untersage mir an dieser Stelle jede Konkretion und ahne nur, dass im Blick auf die Villen der SSFührersiedlung, im Casino und beim Truppenstab, in der Kommandantur und in der Adjutantur ... wenn überhaupt, auf eine ganz andere Weise von Gott die Rede sein müsste ...

»Wo warst du, Gott, in Buchenwald?« Niemandem, der trotz unvorstellbarer leiblicher und seelischer Qualen, in tiefster Erniedrigung und Entfremdung dennoch die Nähe Gottes erfahren hat, ist dies abzusprechen. Und es hat am Ort grausamster Entmenschlichung auch eine Menschlichkeit gegeben, in der das menschliche Antlitz Gottes wahrgenommen werden konnte. Es gab Musik und Literatur, Film und Malerei und hier und da das kleine alltägliche Glück – inmitten der ganz unmenschlichen Absurdität der Lagerwelt, die dadurch aber mitnichten wohnlicher wurde. Wir können und sollen diese Phänomene nicht ausblenden; sie aber als sinnstiftend oder gar als Beweis für die Gegenwart Gottes heranzuziehen, wäre Zynismus.

Die Frage »Wo warst du, Gott, in Buchenwald?« kann für uns heute nur auf den Grundton der Klage gestimmt – der Klage darüber und Anklage darauf, dass allein in diesem Lager Gott den Mördern von mindestens 56 000 Häftlingen nicht in den Arm gefallen ist und dass Hunderttausende lebenslänglich stigmatisiert bleiben von dem, was ihnen hier am eigenen Leib und im Miterleben der Qualen anderer angetan wurde.

In der Frage »Wo warst du, Gott, in Buchenwald?« verbirgt sich zugleich die je eigene Frage von jeder und jedem von uns, wie wir Gott mit dem zusammendenken und zusammenbringen können, was Menschen Menschen antun können – von der Träne nur eines Kindes, dem wir wehgetan haben, bis hin zum millionenfachen Mord. Warum lässt Gott das geschehen? Warum greift Gott nicht ein und verhindert solche Untaten? Warum können Menschen, wiewohl Geschöpfe Gottes, so vom Bösen besessen sein?

Erinnern wir uns an einige Antworten der theologischen Tradition und klopfen wir sie ab auf ihre Überzeugungskraft für unser Fragen hier und heute!

2. Die helfende Ohnmacht des leidenden Gottes und das Mitleiden der Menschen mit Gott

»Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist [...] ganz deutlich, daß Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens! [...] Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt [...]. Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen.«5

Manche von Ihnen werden diese prominenten Sätze Dietrich Bonhoeffers vom Sommer 1944 kennen; geschrieben aus der Haft in Tegel an seinen Freund Eberhard Bethge. Sätze, die unverzichtbar und unhintergehbar sind im Widerspruch gegen das Apathie-Axiom, gegen die Vorstellung eines leidensunfähigen Gottes, der sich nicht affizieren und bewegen lässt von der Not in der Welt, vom Elend seiner Geschöpfe, eines weltfernen Gottes im Himmel, der unberührt und unerschüttert bleibt von dem, was auf Erden passiert, es sich nicht angehen und zu Herzen gehen lässt. Eine Gottesvorstellung, die sich mit einem Verständnis des Allmächtigen als eines Alleskönners verbindet, der – wenn er es denn will – nach Belieben als »deus ex machina« von außen eingreift. Eine Vorstellung von Allmacht, die leicht in Willkür umschlagen und bei der Gott zum Erfüllungsgehilfen menschlicher Allmachtsphantasien werden kann.

Gegen dieses so wirkmächtige Gottesbild setzt Bonhoeffer auf die in der Passion Jesu von Nazareth sich bezeugende Leidensfähigkeit Gottes, auf das Mitleiden Gottes, des Vaters, mit seinem Sohn und in ihm mit allen leidenden Geschöpfen. Ikonographischen Anschauungsunterricht für die Compassio Gottes, des Vaters, können wir an den Gnadenstuhl-Darstellungen nehmen, in denen Gott schmerzerfülltseinen toten Sohn im Arm hält. Mehr noch: es ist das Leiden Gottes an der Welt, das seinen Ausdruck in der Passion Jesu findet. Indem Gott sich in der Hinrichtung Jesu vorbehaltlos auf eine sich gottlos gebärdende und gegenüber Gott verschließende Welt einlässt, indem er die von Menschen gemachte Gewalt sich selbst leibhaftig widerfahren lässt, steht er den Leidenden in dieser Welt bei und hilft ihnen – so die Theo-Logik der Argumentation Bonhoeffers.

Mich haben diese Gedanken lange Zeit sehr angesprochen und überzeugt. Inzwischen habe ich – nicht zuletzt bedingt durch die Wirkungsgeschichte, in der sie fortgeschrieben wurden, meine Fragen an sie. Wie kommt es vom Mitleiden Gottes zur Überwindung des Leidens? Gewiss: geteiltes Leid ist halbes Leid, aber eben immer noch Leid! Korrespondiert dem notwendigen Abschied von einem metaphysischen Allmachtsverständnis zwangsläufig die Rede von einem mitleidenden Gott, der allein durch die Schwäche, ja die Ohnmacht seiner Liebe hilft, die nicht herrschen, die nicht zwingen will, die vielmehr freigibt?

Anders formuliert: Liegt in Bonhoeffers Betonung der Ohnmacht Gottes nicht eine Unterbestimmung der Auferweckung des Gekreuzigten und damit des Bekenntnisses zu einem Gott, der stark wie der Tod und darum stärker als der Tod ist? Steht ein Gott, der ganz und gar eingeht auf die Not dieser Welt, nicht in der Gefahr, in ihr unterzugehen? Bedarf es nicht – in, mit und unter aller Sympathie Gottes, die im Kreuzestod des Gottessohnes bis zur stellvertretenden Lebenshingabe reicht – auch des Bekenntnisses zu einer Welt- und Leidensüberlegenheit Gottes, um die Todesmächtigkeit Gottes zu bezeugen?

Es gibt eine besonders erschütternde Szene im ersten Teil von Elie Wiesels weithin autobiographischer Trilogie »Die Nacht zu begraben, Elischa«. In ihr geht es um unsere Themafrage: »Wo ist Gott in Buchenwald, in Auschwitz, in Birkenau? « – Orte, an denen Wiesel selbst dem Tod ins Auge gesehen hat. Ich scheue mich etwas, diese Szene zu erinnern, weil sie beinahe zu Tode zitiert ist. Wenn ich es dennoch tue, dann allein um dieser Fragehinsicht willen: Ist ein Gott, der mitleidet und mitstirbt, der Gott, der den Leidenden hilft und das Leid überwindet?

»Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich. Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. es war aschfahl, aber fast ruhig und biß sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz.Diesmal weigerte sich der Lagerkapo, als Henker zu dienen. Drei SS-Männer traten an seine Stelle. Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle.
Drei Hälse wurden zur gleichen Zeit in die Schlinge eingeführt. [...]
›Wo ist Gott, wo ist er?‹ fragte jemand hinter mir.
Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um.
Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont geht die Sonne unter.
[...] Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. [...] Aber der dritter Strick hing nicht reglos: der leichte Knabe lebte noch ...
Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mußten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorüberschritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen.
Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen:
›Wo ist Gott?‹
Und ich hörte eine Stimme in mir antworten:
›Wo ist er? Dort – dort hängt er, am Galgen ...‹
An diesem Abend schmeckte die Suppe nach Leichnam.«6

»Und ich hörte eine Stimme in mir antworten ...« Es ist nicht Wiesel selbst, es ist eine Stimme in ihm, die ihn Gott im Todeskampf des Kindes am Galgen verorten lässt. Es tut Not und ist wichtig, auf diese Differenz zu achten. Wiesel identifiziert die Stimme nicht, lässt offen, wer aus ihm spricht. Wiesel selbst gibt von sich aus keine Antwort auf die Frage, ob Gott in den Todeslagern mitgestorben ist, ob die KZs nur insofern Orte Gottes sind, als sie Orte des Todes Gottes sind.

Für Dietrich Bonhoeffer erwächst aus der Einsicht in die Ohnmacht des leidenden Gottes eine Ortsanweisung für uns ChristInnen: nämlich bei Gott zu stehen, dem ohnmächtigen Gott beizustehen und Gottes Leiden an und in der Welt zu teilen. So etwa in seinem Gedicht »Christen und Heiden«:

»Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, /
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot /
Um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod. /
So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.

Menschen gehen zu Gott in Seiner Not, /
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, /
Sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. /
Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.

Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, /
sättigt den Leib und die Seele mit seinem Brot, /
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, /
und vergibt ihnen beiden«7

3. Die Verantwortung des Menschen für einen ohnmächtigen Gott oder der doppelte Ort eines todesmächtigen Gottes?

In der Rezeption der Gedanken Bonhoeffers und auch unabhängig von ihnen wird diese Figur, dass Menschen dem ohnmächtig leidenden Gott beistehen, ausgearbeitet zur Vorstellung von der Verantwortung des Menschen nicht nur für diese Welt, sondern auch für Gott.

Dorothee Sölle geht – explizit an Bonhoeffers Rede von der Ohnmacht Gottes anknüpfend – davon aus, »daß nichts uns so sehr auf Gott hinweist wie seine Niederlagen in der Welt. Daß Gott in der Welt beleidigt und gefoltert, verbrannt und vergast wurde und wird, das ist der Fels des christlichen Glaubens, dessen Hoffnung darauf geht, daß Gott zu seiner Identität komme.« Und sie schließt ihr anregend-aufregendes Buch »Stellvertretung« mit den Sätzen: »Als die Zeit erfüllt war, hatte Gott lange genug etwas für uns getan. Er setzte sich selber aufs Spiel, machte sich abhängig von uns und identifizierte sich mit dem Nichtidentischen. Es ist nunmehr an der Zeit, etwas für Gott zu tun.«8

Auch in Hans Jonas' existenzieller Arbeit am »Gottesbegriff nach Auschwitz« hat Gott sein Schicksal in die Hände der Menschen gelegt. Dem Juden Jonas, der hier Gott zu denken versucht angesichts der Ermordung seiner Mutter in Auschwitz, ist es unmöglich, auf die Gerechtigkeit und auf die Verstehbarkeit Gottes zu verzichten. Also muss das Attribut der Allmacht weichen: »Gott schwieg. Und da sage ich nun: Nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein.«9 Nicht erst mit der Schoa, sondern bereits mit der Erschaffung des Menschen hat Gott das eigene Geschick den Menschen überantwortet, sich ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und nun ist es an uns, ob Gott die eigene Gottheit aus unseren Händen wieder zurückempfängt oder ob Gott scheitert. Jonas' Hoffnung speist sich aus dem jüdischen Traditionsmotiv der 36 Gerechten, die dieser Welt Bestand verleihen und zu denen die »Gerechten aus den Völkern« hinzukommen. Auf ihr gerechtes Tun, auf das »Prinzip Verantwortung«10 setzt er, damit es Gott nicht gereuen muss, die Menschen geschaffen zu haben.

Wo die Verantwortung in dieser Weise auf die Menschen übergeht, wandelt sich die Theodizee- zur Anthropodizee-Frage, zur Frage nach der Rechtfertigung des Menschen angesichts des unbeschreiblichen Leidens in der Welt:

»Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute nacht geschah es zum erstenmal, daß ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. [...] Ich will dir helfen, Gott, daß du mich nicht verläßt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: daß du uns nicht helfen kannst, sondern daß wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben. Ich fordere keine Rechenschaft von dir, du wirst uns später zur Rechenschaft ziehen. Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, daß du uns nicht helfen kannst, sondern daß wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen.«11

So lautet ein Abschnitt aus den Tagebüchern der holländischen Jüdin Etty Hillesum, die 1943 in Auschwitz ermordet wurde. Er trägt die Überschrift »Sonntagsgebet«.

Ich habe vor diesen jüdischen Stimmen, die angesichts der Schoa an Gott festhalten, Gott denken und zu Gott beten, großen Respekt. Es sind ergreifende Zeugnisse eines Glaubens an einen Gott, dem Menschen in tiefster Not zu Hilfe kommen müssen und wollen; Zeugnisse, aus denen aber keine dogmatische Lehre einer absoluten Menschenbedürftigkeit Gottes abzuleiten ist, will man sie nicht theologisch korrumpieren.

Gleichwohl vermag ich nicht bei diesen Stimmen, die uns Menschen die totale Verantwortung für die Welt und auch für Gott aufbürden, stehen zu bleiben. Sie überfordern uns heillos und entlassen Gott zu Unrecht aus der Verantwortung. Ich kann nicht umhin, ihnen und auch der Rede Bonhoeffers von der Ohnmacht des leidenden Gottes die Vorstellung vom doppelten Ort Gottes und der göttlichen Entmachtung des Todes in der Auferweckung des Gekreuzigten zur Seite zu stellen, die für mich im Zentrum des christlichen Glaubens steht. Das Wort vom Kreuz ist ja die Botschaft von der schöpferischen Lebensmacht Gottes, die dem Tod den Stachel zieht, oder es ist kein Wort, das uns befreit und uns hilft.

Was ist es nun um den doppelten Ort Gottes zu tun? Es gibt einen eindrücklichen, verheißungsvollen Vers im dritten Teil des Jesajabuches. In Jes 57,15 heißt es:

»Ja, so hat der Hohe und Erhabene gesprochen,
der auf Dauer wohnt und heilig ist sein Name:
Ich wohne in der Höhe und als Heiliger
und bei dem Zerschlagenen und Gedemütigten im Geist,
um aufleben zu lassen die Gedemütigten,
um aufleben zu lassen das Herz der Zerschlagenen.«12

Alles kommt auf das »und« an, das diese beiden Orte Gottes miteinander verbindet. Es ist eben kein additives, universalisierendes »und«, das Gott unspezifisch oben und unten und damit überall sein lässt. Es verbindet vielmehr zwei Orte präziser Gottespräsenz. Und nur weil Gott an diesen beiden Orten ist, nämlich im himmlischen Heiligtum wohnt (übrigens nicht thront!) und bei den Zerschlagenen und Erniedrigten im irdischen Schlamassel steckt, weil Gott nicht von oben herab zuschaut, sondern in Bewegung ist zwischen beiden Orten – nur darum ist Gott mächtig, die auf Erden Geschundenen wieder aufleben zu lassen. Der doppelte Ort Gottes, die untrennbare dynamische Zusammengehörigkeit von Welttranszendenz und Weltimmanenz Gottes sorgt dafür, dass Gott sich einerseits nicht von der Erde und der Not, die auf ihr zum Himmel schreit, absentieren kann, und dass Gott andererseits nicht so betroffen ist vom Elend, das er vor lauter Betroffenheit nicht mehr helfen kann: Distanz und Nähe, mitleidend da sein und sich zurückziehen können vom Leiden – nur beides zusammen führt zur Überwindung des Leidens und schenkt den Gequälten neues Leben.

Ohne diesen doppelten Ort Gottes könnten wir auch kreuzestheologisch nur vom Tod Gottes, aber nicht mehr von der Auferweckung des Gekreuzigten reden.

4. Die Auferweckung des Gekreuzigten als Unterpfand der Hoffnung auf die göttliche Zurechtbringung aller Gequälten

Kreuzestheologie spricht von dem, was Gott mit dem Kreuz Jesu zu tun hat13. Wir sind traditionell daran gewöhnt zu fragen, was Gott im Leben, Leiden, Sterben und Auferwecktwerden des Gottes- und Menschensohnes für uns getan hat und antworten darauf mit verschiedenen stellvertretungschristologischen Deutungen des Kreuzestodes: »Mein Leib für euch gegeben, mein Blut für euch vergossen.« oder aus dem Predigttext vom letzten Sonntag: »Größere Liebe hat niemand als der, der sein Leben gibt für seine Freunde.« Ich möchte für heute anders fragen, nämlich was tat Gott für den Gekreuzigten selbst und welche Hoffnung begründet dieses göttliche Handeln am Gekreuzigten für alle, denen Unrecht und Gewalt angetan wurde, die misshandelt, gequält und zu Tode gebracht wurden.

Auf die Frage, was Gott für und an dem Gekreuzigten selbst tat, antwortet die Bibel mit dem Bekenntnis zur Auferweckung des Gekreuzigten. Dazu nur ein paar Hinweise:

Die Auferweckung Jesu von den Toten Gottes ist schöpferische Antwort auf das Unrecht, das Jesus ans Kreuz gebracht hat. Sie ist der Einbruch in eine lebenszerstörende Fortschrittsgeschichte, Gottes Widerspruch gegen die, die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Die Auferweckung des unschuldig Hingerichteten ist eine göttliche Protest- und Widerstandshandlung gegen die Verhältnisse und Strukturen, in denen Menschen zu Opfern und TäterInnen von Gewalt werden.

Indem Gott den Hingerichteten nicht im Tod lässt, sondern ihn neu ins Leben ruft, setzt Gott das Leben gegen den Tod, den Segen gegen den Fluch durch. Die Auferweckung ist als schöpferisches Tun eine göttliche Segenshandlung am Gekreuzigten. Gott ergreift Partei für den, der grausam zu Tode gequält wurde.

Gott identifiziert sich mit dem, der zum Opfer gott- und lebensfeindlicher Mächte und Gewalten geworden ist. Mit der Auferweckung des Gekreuzigten bestreitet Gott dem Tod und denen, die ihm in die Hände arbeiten, das Recht über das Leben dieses einen und damit über das Leben aller Geschöpfe. Gott entzieht den Gewalttätigen jede Legitimation für ihre Tat und gibt dem Opfer gegen die Täter Recht. Gott setzt das Gewaltopfer ins Recht. Die Auferweckung Jesu ist ein göttlicher Rechtsakt.

Und nicht zuletzt liegt in der Auferweckung des Gekreuzigten eine Selbstdefinition Gottes. Indem Gott Jesus nicht im Tod belässt, gibt Gott gleichsam zu Protokoll, nicht mit denen verwechselt werden zu wollen, die Menschenopfer fordern oder denen man sie meint darbringen zu müssen.

Noch der Leib des auferweckten Gekreuzigten trägt die Nägelmale des Kreuzes. In den Auferstehungsleib ist die Passionsgeschichte Jesu, sind die Spuren der Kreuzigung eingeschrieben.

Dies lese ich als Verheißung an alle, die Opfer von Gewalt geworden sind, dass ihre Wunden, die an ihrem Leib sichtbaren und die oft viel grausameren Verletzungen ihrer Seele, Wunden, die jetzt noch bleibend schmerzen und oft wieder von neuem aufbrechen, einst geheilt werden können. Auch hier gilt, dass der auferweckte Gekreuzigte »der Erstgeborene von den Toten« (Kol 1,18) ist und uns damit nur einen Weckruf und Aufstand voraus.

Die so verstandene Auferweckung des Gekreuzigten ist noch nicht die Beantwortung der Theodizeefrage, aber sie gibt unserer Hoffnung Grund und Nahrung, dass Gott diese Frage einst beantworten wird. Bis dahin kommt es darauf an, sie Gott ins Angesicht zu klagen. Und damit sind wir nicht allein, sondern mit ihr liegt auch der Auferweckte selbst Gott in den Ohren:

5. Die Kreuzesmale am Auferstehungsleib – der Ort der Theodizeefrage in einer innertrinitarischen Klagespiritualität

Die Passionsgeschichte Jesu und mit ihr die der ganzen Welt ist in der Person des Gottessohnes seit der Rückkehr des Auferweckten in die innertrinitarische Wohngemeinschaft leibhaftig in Gott selbst präsent14. Mit den Spuren der Passion am eigenen Leibe trägt der Auferweckte den Abgrund geschöpflichen Leidens, irdischer Not und menschlicher Schuld in Gott hinein. Der stigmatisierte Leib des Gottessohnes ist in Gott selbst ein Gott anklagendes Zeugnis der Gottverlassenheit der Welt. Die Not der unerlösten Welt hat ihren Ort in Gott, geht Gott im Innersten an. Gott kann sich über ihr nicht beruhigen15.

In einer aufregenden trinitätstheologisch-eschatologischen ReVision der Theodizeeproblematik hat der Tübinger katholische Theologe Ottmar Fuchs von einer innertrinitarischen Klagespiritualität gesprochen, in der sich die irdische Klage des leidenden Gottessohnes »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« um der vom Bösen unerlösten Menschheit willen innertrinitarisch fortsetzt. Den Schrei angesichts des Leidens in der Welt hört Gott nicht nur von unserer Seite und damit von außen, sondern im eigenen Inneren: »Christus ist die offensive Öffnung zwischen Gott und der Welt. Und als diese Öffnung ist er eine Wunde, nicht heilend, bis alles heil ist.«16 In der göttlichen Dreifaltigkeit appelliert der Sohn an die Allmacht der Liebe Gottes, die in seiner Auferweckung von den Toten ihre Todesmächtigkeit erwiesen hat, auf dass sie an allen Menschen, ja allen Geschöpfen wirklich und wahr werde.

Die vom Mitleiden mit der Welt motivierte Klage des Sohnes gegenüber dem Vater konfrontiert Gott mit einem Widerspruch, dem Widerspruch zwischen der vom Tod nicht mehr bedrohten Lebendigkeit des erstgeborenen Gottessohnes und dem Leiden und der Schuld der Menschen, die doch ihrerseits in Christus zu nachgeborenen (bzw. adoptierten) Töchtern und Söhnen Gottes geworden sind. In Gott lässt der Gottessohn die Theodizeefrage nicht verstummen, bis Gott sie beantwortet haben wird. Darauf zielt die fürbittende, empathische Klage des Sohnes, dass Gott doch endlich mit der Welt und darin mit sich selbst zurecht komme. Darum wird sie nicht verstummen, bis Gott nicht länger mit der Schöpfung am Rande (des Abgrunds) steht, sondern – mit der Hoffnung von 1Kor 15,28 – »alles in allem« sein wird.

Und solange der auferweckte Gekreuzigte Gott mit der Theodizeefrage konfrontiert, hat auch unsere Frage ihren Ort in Gott selbst: »Wo warst du, Gott, in Buchenwald?«

1 Vortrag im Rahmen der ZEITSIGNALE am Reformationstag 2007 in der Stadtkirche St. Peter und Paul (am Herderplatz) in Weimar.
2 Wichtige Informationen habe ich entnommen: DAVID A. HACKET (Hg.), Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, München 2002, dem in Anm. 3 angeführten Band und autobiographischen Prosatexten von Jorge Semprun (bes. den in Anm. 4 genannten Titel) sowie dem Internet-Portal der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora: www.buchenwald.de.
3 EMIL CARLEBACH/WILLY SCHMIDT/ULRICH SCHNEIDER, Buchenwald. Ein Konzentrationslager: Berichte – Bilder – Dokumente, Bonn 2000, 35.
4 Vgl. JORGE SEMPRUN, Der Tote mit meinem Namen. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer (st 3549), Frankfurt a.M. 2003.
5 DIETRICH BONHOEFFER, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (DBW 8), hg. von Christian Gremmels u.a., Gütersloh 1998, 534.
6 ELIE WIESEL, Die Nacht zu begraben, Elischa, Frankfurt a.M./Berlin 31990, 93f.
7 D. BONHOEFFER, Widerstand und Ergebung, aaO., 515f. Vgl. auch aaO., 535-537.
8 DOROTHEE SÖLLE, Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem »Tode Gottes«. Neuauflage, Stuttgart 1982, 173. 9 HANS JONAS, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme (1984), in: DERS., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen (st 2279), Frankfurt a.M. 1994, 190-208, 204f.
10 HANS JONAS, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M. 1979.
11 Das denkende Herz. Die Tagebücher der ETTY HILLESUM 1941-1943, hg. und eingeleitet von J.G. Gaarlandt. Aus dem Niederländischen von Maria Csollány, Reinbek bei Hamburg 1985, 149.
12 Verdeutschung und Interpretation im Anschluss an JÜRGEN EBACH, »Hoch und heilig
wohne ich – und bei den Zermalmten und Geisterniederten«. Versuch über die Schwere Gottes (1992), in: DERS., Hiobs Post. Gesammelte Aufsätze zum Hiobbuch, zu Themen biblischer Theologie und zur Methodik der Exegese, Neukrichen-Vluyn 1995, 183-211, 184.
13 Vgl. zum Folgenden ausführlich: MAGDALENE L. FRETTLÖH, Der auferweckte Gekreuzigte und die Überlebenden sexueller Gewalt. Kreuzestheologie genderspezifisch wahr genommen, in: RUDOLF WETH (Hg.), Das Kreuz Jesu; Gewalt – Opfer – Sühne, Neukirchen-Vluyn 2001, 77-104.
14 Vgl. dazu ausführlicher MAGDALENE L. FRETTLÖH, »Gott ist im Fleische ...«. Die
leibeigene Dimension der Inkarnation Gottes beim Wort genommen, erscheint in: »Dies ist mein Leib«. Leibliches, Leibeigenes und Leibhaftiges bei Gott und den Menschen (Jabboq 6), hg. Von Jürgen Ebach u.a., Gütersloh 2006, 186-229.
15 Siehe dazu auch den letzten Abschnitt in: MAGDALENE L. FRETTLÖH, Ist Gott randständig? – oder: wer außer Gott kann schon mit Gott zu Rande kommen!, in: Die besten Nebenrollen. 50 Porträts biblischer Randfiguren, hg. von Marion Keuchen u.a., Leipzig 2006, 22-33, 32f.: Gott am Rande des Abgrunds und der Rand des Abgrunds in Gott selbst.
16 OTTMAR FUCHS, Gottes trinitarischer »Offenbarungseid« vor dem »Tribunal«
menschlicher Klage und Anklage, in: Monotheismus Israels und christlicher Trinitätsglaube (QD 210), hg. von Magnus Striet, Freiburg i. Br. 2004, 271-295, 279.

Die Evangelische Akademie Thüringen im Zinzendorfhaus Neudietendorf stellt den Vortrag auf ihrer Homepage als PDF bereit:


Dr. Magdalene L. Frettlöh, Rektorin des Kirchlichen Fernunterrichts und Privatdozentin für Systematische Theologie