Calvin und der Calvinismus 1509 – 2009

Neues Heft der Zeitschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht

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Mit Beiträgen von Heinz Schilling, Stefan Ehrenpreis, Michel Pauly, Ansgar Reiß, Gregor Horstkemper und Alessandra Sorbello Staub – u.a. zu Konfessionskultur, Calvinismus und Moderne, Jean Calvin und das Reformiertentum im Internet. Editorial von Joachim Rohlfes und Zusammenfassung der Beiträge online

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Zeitschrift: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Herausgeber: Joachim Rohlfes, Michael Sauer, Winfried Schulze; ISSN: 0016-9056
Verlag, Erscheinungsort: Erhard Friedrich Verlag, Seelze; Ausgabe: 07/08/2009 - 1509-2009: Calvin und der Calvinismus

Editorial von Joachim Rohlfes

Die deutsche (Kirchen-)Geschichtsschreibung und das sich darin spiegelnde kollektive Geschichtsbewusstsein haben es mit Calvin und dem Calvinismus zumeist nicht sonderlich gut gemeint. Verglichen mit Luther und dem Luthertum haben es die Calvinisten nie zu wirklicher Zuwendung und Wertschätzung gebracht. Den zahlreichen Biografien und Denkmälern des Wittenberger Reformators standen nur wenige Erinnerungen an den Genfer Konfessionsgründer gegenüber. Das hatte sicherlich einiges mit der Herkunft und dem Wirkungsfeld der beiden Theologen zu tun: hier der Meister der deutschen Sprache und als Inbild des deutschen "Gemüts" verehrte Martin Luther; dort der aus Frankreich stammende, im schweizerischem Genf wirkende Jean Calvin, dessen asketisch-disziplinierte Wesensart, kühl-rationale Denkweise und unbarmherzige Verfolgung aller Abtrünnigen so wenig geeignet war, Sympathie und Popularität zu erwecken. Ähnlich gegensätzlich waren die theologischen Positionen der beiden: Vor dem Hintergrund seiner eigenen Glaubensnöte verfocht Luther die trostreiche Botschaft von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes für die wahrhaft gläubigen Christen; Calvins schroffe Prädestinationslehre dagegen unterteilte die Menschen in die von Anfang an Auserwählten, die ein gnädiger Gott behütete, und die für alle Zeiten Verdammten, denen jede Hoffnung versagt war.

Die calvinistisch-reformierte Glaubensrichtung erreichte in Deutschland nie auch nur annähernd jene Verbreitung und Prägekraft wie das Luthertum. Wo sie – wie in der Kurpfalz, einigen kleinen Territorien wie Hessen-Kassel oder Lippe oder in Städten wie Bremen, Emden, Wesel – Fuß fassen konnte, geschah dies in einer abgewandelten Form, die "philippistische" (auf Melanchthon zurückgehende) Elemente enthielt und überdies Gemeinsamkeiten mit dem lutherischen Landeskirchentum aufwies, insofern sich die Obrigkeit bestimmte Lenkungsbefugnisse vorbehielt und die Autonomie der Gemeinden nur mit Einschränkungen respektierte. Das unverfälschte Kirchenmodell Calvins mit seinen presbyterial-synodalen Institutionen kam nur außerhalb Deutschlands voll zur Geltung: in Genf, den Niederlanden, Schottland, in den französischen Hugenottengemeinden bis zur Aufhebung des Ediktes von Nantes 1685, in Teilen Polens und Ungarns sowie in einigen britischen Kolonien Nordamerikas. Für die deutschen Territorien bis zum Westfälischen Frieden 1648 bestimmte ein permanenter Streit zwischen Lutheranern und Reformierten das religiöse und politische Klima, das auch noch lange danach prekär blieb.

So wurden Historiografie und kirchenpolitischer Diskurs in Deutschland bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein von einer stiefmütterlichen Behandlung des Calvinismus geprägt. Rankes viel gelesene Reformationsgeschichte (1839-47) widmete Calvin nur wenige verstreute Bemerkungen; und in Karl Heussis Standardwerk "Kompendium der Kirchengeschichte" (1. Aufl. 1907, 15. Aufl. 1979) umfasste die Darstellung der lutherischen Reformation 34, die der calvinistischen sieben Seiten. Ein erster Wandel der Blickrichtung vollzog sich um 1900 mit Max Webers Abhandlung "Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus" sowie Georg Jellineks Arbeiten zur Entstehung der parlamentarischen Demokratie; beide Autoren betonten die Bedeutung des Calvinismus für die Entstehung der modernen (westlichen) Welt. Gleichwohl fand die Calvinismus-Diskussion weiterhin vornehmlich im Ausland statt. Erst in jüngster Zeit, so scheint es, hat sich nun auch die deutsche Forschung in diesen Diskurs eingeschaltet. Die drei einschlägigen Beiträge dieses Heftes resümieren den gegenwärtigen Stand, den man als eine Hinwendung zum im engeren Sinne "religiösen Konfessionsprofil" (Schilling) charakterisieren kann. Dieser Ansatz nimmt den ,cultural turn‘ auf, der die heutige Geschichtswissenschaft dominiert, indem er seine Aufmerksamkeit auf das religiöse "Selbstverständnis von Gruppen und Individuen" und die damit einhergehenden "vielfältigen lebensweltlichen Ausprägungen" (Ehrenpreis) richtet.

Inhalt der Ausgabe:
ABSTRACTS (S. 370)
EDITORIAL (S. 371)
BEITRÄGE

Heinz Schilling
Calvin und die calvinistische Konfessionskultur
Fremdheitserfahrung und Modernität (S. 372)

Stefan Ehrenpreis
Calvinismus und Moderne
Mythen, Themen, Forschungsperspektiven (S. 387)

Michel Pauly
Stadtentstehung im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Nordwesteuropa (S. 406)

BERICHTE UND KOMMENTARE
Ansgar Reiß

„Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa“
Die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin (S. 421)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN
Gregor Horstkemper/Alessandra Sorbello Staub
Ein Theologe mit Langzeitwirkung
Jean Calvin und das Reformiertentum im Internet (S. 431)

LITERATURBERICHT
Heinz Schilling

Konfessionalisierung, Teil IV (S. 433)

NACHRICHTEN (S. 456)

Abstracts der Beiträge:

Heinz Schilling
Calvin und die calvinistische Konfessionskultur
Fremdheitserfahrung und Modernität

GWU 60, 2009, H. 7/8, S. 372-386
Anders als die Entwürfe der klassischen Religionssoziologie sucht der vorliegende Beitrag den dauerhaft prägenden Kern des Calvinismus und seiner Wirkungsgeschichte in den Bedingungen seiner Entstehung und Ausbreitung im frühneuzeitlichen Europa, konkret in den Erfahrungen von Verbannung und Exil. Nicht so sehr die Prädestinationslehre als die Erfahrung, in der Welt fremd zu sein, prägten die calvinistische Konfessionskultur und die von ihr ausgehende Dynamik der Weltbehauptung und Weltveränderung einschließlich der Impulse für die Herausbildung der modernen Wirtschafts- und Politikordnung.

Stefan Ehrenpreis
Calvinismus und Moderne
Mythen, Themen, Forschungsperspektiven

GWU 60, 2009, H. 7/8, S. 387-405
Die frühneuzeitlichen reformierten Kirchen existierten in politisch und sozial unterschiedlichen Umwelten und waren keineswegs einheitlich. Die um 1900 erstmals debattierte Beziehung zwischen Calvinismus und westlicher Moderne lässt sich in neuerer Sicht anhand der Parameter: Beitrag zur Globalisierung, zur Demokratietheorie, zur frühkapitalistischen Wirtschaftsentwicklung und zur frühneuzeitlichen Bildung und Wissenschaft überprüfen. Das Ergebnis ist ambivalent: statt den Vorrang einer Konfession zu behaupten, sollten eher konkrete Auswirkungen der verschiedenen Konfessionskulturen untersucht werden, die jeweils einen eigenständigen Beitrag zur westlichen Moderne leisteten.

Michel Pauly
Stadtentstehung im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Nordwesteuropa

GWU 60, 2009, H. 7/8, S. 406-420
Römische Siedlungsreste, Händlerniederlassungen, Dynastenburgen oder Abteien konnten Keimzellen der im Mittelalter neu entstehenden urbanen Siedlungen sein. Das ist bekannt. Und doch führten rezente historische und archäologische Untersuchungen zu neuen Paradigmen in der Stadtgeschichtsforschung: Statt von einem topographischen Dualismus ist von polynuklearen Siedlungsansätzen auszugehen; Fördermaßnahmen des Stadtherrn spielten eine den kaufmännischen Initiativen mindestens ebenbürtige Rolle; die Schutzfunktion der Stadt besaß ursprünglich wohl mehr Gewicht als die wirtschaftlichen und religiösen Zentralfunktionen.

Kontakt: Prof. Dr. Michael Sauer
Universität Göttingen
Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte
Didaktik der Geschichte
Waldweg 26
37073 Göttingen
Tel. 0551/39-13388
Fax 0551/39-13385

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Barbara Schenck
 

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