Das ''leere Grab'' und die ''Fülle des Grabes''

Aus einer Meditation von Michael Weinrich

Eingang zum Gartengrab, Jerusalem © Wikimedia / Ian Scott

Die Konzentration des Blicks auf das „leere Grab“ steht in der Gefahr, die Osterbotschaft zu entleeren. Denn Ostern ist kein „Erinnerungsfest“, sondern „ein Eröffnungsjubel für eine neue Zeit“. Doch bleibt dieser Jubel gebunden an seine Vorgeschichte. Die führte zunächst ins Grab.

„Das Grab, in dem Jesus nicht mehr ist, ist nicht seine Auferstehung, sondern nur deren Folgeerscheinung.“ (Karl Barth, KD III/2, 542)

Die Fülle des Grabes

„Da haben wir uns eine merkwürdige Überschrift angewöhnt, mit der unser Text [Matthäus 28, 1-10] allzumeist betitelt wird: Das leere Grab. Diese Überschrift hat eine resignierende Nähe zu archäologischen Spekulationen, die ja auch tatsächlich angestellt wurden, etwa über Jesu Leichentuch. Dann läuft da plötzlich die Trennungslinie zwischen Original und Fälschung. In diese Richtung werden die Gedanken scheinbar auch von Matthäus im weiteren Verlauf dieses Kapitels gelenkt.

Die Fixierung auf das leere Grab eröffnet sumpfige Spielräume, die seither bis heute auch munter von notorischen Skeptikern und einflußreichen Manipulateuren, aber auch von rechthaberischen Fundamentalisten und anderen religiösen Kleingeistern genutzt und in die Diskussion genötigt wurden. Beide ‚Positionen: diejenige, die das Geschehen der Auferweckung Jesu als historisches bestreitet und sich dabei aufhält - und diejenige entgegengesetzte, welche dasselbe behaupten oder gar beweisen will: beide sind im selben Spital krank. Beide drücken sich vor der Erfahrung des Auferstandenen, der sich zeigt, wenn wir seinen Weg ins Reich Gottes zu gehen anfangen. Weil wir den Weg nicht gehen, sehen wir ihn auch nicht.’ [L. Steiger, Erzählter Glaube. Die Evangelien, Gütersloh 1978, 56]

Dies Ausmessen des leeren Grabes, um es zum Gegenbeweis bzw. zum Beweis zu präparieren, hat etwas phantasielos Borniertes an sich, dessen zwanghafte Abständigkeit besonders in der spröden Aufreihung von Allgemeinevidenzen zu erkennen ist. Die sind durch nichts zum Leben zu erwecken, die erst einem leblosen Beweis trauen. So weit kommt es aber, wenn man sich an das Gebliebene und nicht an das Lebendige hält, wenn man Orte heiligt und nicht dem Geschehen folgt, wenn man mehr den Zeichen als den Worten Gottes traut. Verläßt man sich nur auf die Zeichen, so wird man an der Stelle des Engels schnell selbst zum Deuter, der dann glaubt, festlegen zu können, in welche Richtung die sprachlosen Zeichen deuten.

Vielleicht hängen wir auch an dieser Überschrift, weil uns am Grab die Auferstehung am nächsten ist. Da, wo es um die Fülle des Lebens geht, sprechen wir in indirekter, negativer Wendung von der Leere des Todes, denn der Tod ist uns in unserem ‚Leben’ näher als die Fülle des Lebens: eben deshalb wird er allseits angstvoll verschwiegen. Nirgends wird heute noch so unverblümt von Auferstehung gesprochen wie an den Gräbern. Bisweilen habe ich den Eindruck, daß man nur in der Begegnung mit dem Tod - solange das Grab noch offensteht - noch wagt, von Auferweckung zu sprechen. Der Abschied wird uns leichter in der Hoffnung darauf, daß einst auch dieses Grab leer sein wird. Das hilft im Moment - auch wenn es im Moment nicht hilft.

Dann aber im Leben - außerhalb der Friedhofsmauern -, dort wo der Tod zwanghaft ignoriert wird, spielt auch das leere Grab keine Rolle mehr. So wie wir ohne den Tod glauben, recht leben zu können, so wenig leben wir auch von der Auferweckung her. Wer die Endlichkeit ignoriert, kann auch nichts von der Ewigkeit ahnen; er lebt zeitlos, hetzt sich von seiner Zeit los, in dem Wahn, sie so festhalten zu können. Und so dient die Proklamation der Ewigkeit dem Ausgleich des mit dem Grabe aufgeworfenen Endlichkeitsschreckens, damit auch hier dafür gesorgt ist, daß die Zeit nicht ihre Zeit bekommt.

Die allzu flinke Konzentration auf das leere Grab entleert die Osterbotschaft, von der aus gesehen wir erst recht zur Fülle des Grabes Jesu geführt werden. Erinnern wir uns ruhig zu Ostern auch der Passion Jesu, damit das Fest nicht in einem leichtfüßigem Rausch unverletzbarer Gottesfreundlichkeit endet, die nun auch noch den Tod freundlich gestimmt habe (, was dann unsere Todesverdrängungen einmal mehr ins Recht zu setzen scheint). Freilich ist Ostern kein Erinnerungsfest, sondern ein Eröffnungsjubel für eine neue Zeit. Doch dieser Jubel bleibt unablösbar von seiner Vorgeschichte, die zunächst ins Grab geführt und dem nun leeren Grab seine Fülle gegeben hat.

Aus: Göttinger Predigtmeditationen (GPM), 1985, Heft 2, 202-204, Auszug, ohne Anmerkungen


Michael Weinrich