Die Lehre von der Prädestination - die Erwählungslehre

Ein Überblick von Johannes Calvin über Karl Barth bis Letty Russell. Von Margit Ernst-Habib


©Andreas Olbrich

Wohl kaum eine andere theologische Lehre ist durch die Jahrhunderte hindurch als für die reformierte Tradition so charakteristisch verstanden worden; wohl kaum eine andere Lehre ist – außerhalb und innerhalb – der reformierten Tradition so oft verzeichnet, missverstanden oder karikiert worden wie die Lehre von Gottes Erwählung oder Prädestination.

Die Lehre von der Prädestination: Was sie sagt und was sie fragt

Die Prädestinationslehre Calvins

Prädestination in der "Reformierten Scholastik"

Die Wieder-Entdeckung der Erwählungslehre

Wohl kaum eine andere theologische Lehre ist durch die Jahrhunderte hindurch als für die reformierte Tradition so charakteristisch verstanden worden; wohl kaum eine andere Lehre ist – außerhalb und innerhalb – der reformierten Tradition so oft verzeichnet, missverstanden oder karikiert worden wie die Lehre von Gottes Erwählung oder Prädestination.
Auch der direkte Einfluss dieser Lehre auf Frömmigkeit und Selbstverständnis vieler Christinnen und Christen in reformierten Kirchen der unterschiedlichsten Kontexte war über lange Zeit hin (und ist es in vielen Kirchen immer noch) von größter Bedeutung. Negativ formuliert: in einigen Versionen hat sie in nicht zu unterschätzendem Maße zu seelsorgerlichen Ängsten und Nöten und zu tiefsten Selbstzweifeln beigetragen, aber auch zu Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit einer Schar von Christinnen und Christen, die sich im Gegensatz zu den "Anderen" für die Auserwählten Gottes hielten.

Die Lehre von der Prädestination: Was sie sagt und was sie fragt

In Vergessenheit geraten
Wenn die Prädestinationslehre heute in weiten Teilen der reformierten Tradition Westeuropas in Vergessenheit zu geraten sein scheint (anders sieht es allerdings in vielen reformierten Kirchen Asiens, Amerikas und Osteuropas aus), dann gerade auch wegen vieler negativen Auswirkungen. Im Gegensatz dazu konnte diese Lehre allerdings noch im 16. Jahrhundert von vielen Christinnen und Christen als wirklicher Trost verstanden werden, und im 20. Jahrhundert gar als das "Evangelium in nuce" (Karl Barth) bezeichnet werden.

Worum geht es? – "In Christus hat Gott uns erwählt"
Worum aber geht es dann in dieser Lehre – oder vielmehr, was wollen die vielen verschiedenen Versionen der Lehre vom erwählenden Gott aussagen? Ausgehend von Bibelstellen wie etwa Epheser 1,4 ("in Christus hat Gott uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war") erarbeiten Theologinnen und Theologen prädestinarische Überlegungen, die sich mit Hauptanliegen reformierter und reformatorischer Theologie auseinandersetzen. Sie beschäftigten sich mit Fragen, die im Grunde genommen alle biblisch fundierte, christliche Theologie aufwirft: wie verhalten sich etwa menschliche Sünde und die Gnade Gottes, der (un-)freie Wille des Menschen und Gottes Handeln, Glaube und Werke zueinander? Welche Rolle spielt Jesus Christus in all dem, wie haben Christinnen und Christen an seinem Erlösungswerk teil? Von besonderer Bedeutung für die reformierte Tradition ist in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Souveränität Gottes und dem Primat (Vorrang) der Gnade, die nicht von menschlichen Tun und Wollen abhängen.

Im Dialog der Religionen: Gibt es eine Erwählung ohne Christus?
Anders formuliert kann (und muss) man aber mit der Prädestinationslehre auch danach fragen, was es heißt ein Christ, eine Christin zu sein; oder, nicht individuell bestimmt: was heißt es, von Gott erwählte Gemeinschaft zu sein? Wozu sind wir erwählt? Dazu kommt noch die Frage, ganz aktuell in Zeiten des christlich-jüdischen und allgemein interkonfessionellen und interreligiösen Dialogs, wer ist in dieses "Wir" eingeschlossen? Wer zählt zu den "Erwählten"? Und welche Rolle spielt Christus für die Erwählung von Nicht-Christinnen und -Christen? Gibt es eine Erwählung ohne Christus, an Christus vorbei? Es ist also dramatische Verkürzung, wenn die Prädestinationslehre so verstanden wird, als beschäftige sie sich allein mit der Frage "wer wie in den Himmel kommt".

Gottes ewiger Ratschluss
Als eine (zugegebenermaßen verallgemeinernde) Ausgangsbestimmung der Lehre von der Prädestination kann die folgende Beschreibung dienen, die Prädestination als "Gottes ewiges Dekret, durch das alle Geschöpfe zu ewigem Leben oder Tod vorherbestimmt werden" definiert und die die sogenannte "doppelte Prädestination" wie folgt beschreibt: "Gott bestimmt oder erwählt durch ewige Dekrete die einen zu ewigen Seligkeit und verurteilt die anderen zur Verdammung." (Donald McKim) Sind auch in dieser Definition längst nicht alle Details prädestinarischer Argumentationen enthalten, so liefert sie doch zusammengenommen mit dem kurzen Text aus dem Epheserbrief Hinweise auf die theologischen Hauptthemen, die hier angesprochen sind: Vor Anbeginn aller Zeiten entscheidet Gott in Souveränität und Gnade, wer durch und in Jesus Christus zur Seligkeit erwählt wird; wer trotz des Sündenfalls aller Menschen, der für alle die Verdammung nach sich zu ziehen hätte, begnadigt, also gerechtfertigt und geheiligt wird.

Keiner verdient die Erwählung, keiner kann sie verlieren
Keiner der Erwählten hat etwas zur eigenen Erwählung beigetragen, keiner verdient sie, aber es kann sie auch keiner durch eigenes Verschulden wieder verlieren. Diese Gedanken können dann in eher spekulative Überlegungen weitergeführt werden: wenn also Gott Menschen erwählt, heißt das dann nicht auch, dass Gott andere "übergeht", sie also der gerechten Strafe für ihre Sünden überläßt? Bestimmt Gott also in der doppelten Prädestination, die einen zur Seligkeit und die anderen zur Verdammnis?

Die Prädestinationslehre Calvins

Die Erwählungslehre als Seelsorge
Sowohl Calvin (1509-1564), mit dessen Name die Prädestinationslehre untrennbar verbunden ist, als auch der "große Lehrer der Gnade", Augustin (354-430), auf dessen Argumentation Calvin seine Lehre aufbaut, sehen sich durch viele Schriftstellen geradezu dazu gezwungen, von einer doppelten Prädestination auszugehen, auch wenn sie diese selber als – wie Calvin sagt – "furchtbaren Ratschluß Gottes" verstehen. Hier nun ist aber von entscheidender Bedeutung zu sehen, dass sich weder Calvin noch Augustin auf die "dunkle Seite der Prädestination" konzentrieren; es geht beiden nicht darum aufzuzeigen, wer erwählt und wer verdammt ist. Im Gegenteil, beide sind bei den theologischen Überlegungen zur Erwählung von stark seelsorgerlichen Motiven getrieben, den Fragen der Gemeindeglieder nämlich, woher sie wissen sollen, ob sie erwählt sind, ob ihre Werke gut genug sind, um nicht von Gott verdammt zu werden – gerade für die Christinnen und Christen des 4./5. Jahrhunderts wie des 16. Jahrhunderts Fragen, die sie zutiefst berührten (nicht umsonst feierte die Praxis der Ablassbriefe im 16. Jahrhundert so große Erfolge).

In Christus erkennen wir unsere eigene Erwählung
Calvin, der in seinem Hauptwerk der Institutio in ihrer letzten Ausgabe diese Überlegungen nicht spekulativ in den Raum stellte, sondern sie unter der Überschrift "Auf welche Weise wir der Gnade Christi teilhaftig werden, was für Früchte uns daraus erwachsen und was für Wirkungen sich ergeben" behandelte, wollte damit ausdrücken, dass sich Prädestination für Christinnen und Christen nur in Christus richtig verstehen läßt. D.h., wir haben durch das Werk des Heiligen Geistes teil am Erlösungswerk Christi und Christus ist der Spiegel, in dem wir unsere eigene Erwählung erkennen – nicht in uns selbst. Und hier liegt der Trost: sind wir in Christus erwählt, dann können wir die Erwählung nicht verlieren, dann ist Gottes Gnade und Souveränität stärker als unsere Sünde. Diese Aussage war dem Pastor und Theologen Calvin wichtig, nicht das Spekulieren über etwaiges "in" oder "out".

Trost für die verfolgten Gläubigen
Noch ein weiterer Aspekt tritt hier hinzu, der in der Interpretation von Calvins Prädestinationslehre häufig übersehen wird: Calvin schreibt immer mit dem Bild der besonders in Frankreich unter Unterdrückung leidenden Gläubigen vor Augen; Gläubige, die mit der ständigen Angst vor Verfolgung und Tod lebten und von denen viele tatsächlich das Martyrium erlitten. Das, was für ihn die Prädestinationslehre aussagen soll, ist keine abstrakt-philosophische Diskussion, sondern von größter seelsorgerlicher Relevanz gerade für diese Bedrückten. Sie sind die Erwählten Gottes, auch wenn ihre Erfahrungen dem zu widersprechen scheint. Es geht also nicht darum, etwa eine Gemeinschaft der Erwählten von den Verdammten abzugrenzen, sondern es geht immer und zentral um die Größe der souveränen Gnade Gottes für die Menschen.

Gottes geheimen Ratschluss können wir nicht einsehen
Was die "Verdammten" angeht, so können wir laut Calvin Gottes geheimen Ratschluß nicht einsehen – wir wissen schlicht nicht, wer dazu gehört und wer nicht. In diesem Sinne bekennt dann z.B. das Zweite Helvetische Bekenntnis von 1566: "Obwohl nur Gott weiß, wer die Seinen sind und da und dort [in der Schrift] die geringe Zahl der Erwählten erwähnt wird, muß man doch für alle das Beste hoffen und darf nicht vorschnell jemanden den Verworfenen beizählen." (Kapitel X)
Der Heidelberger Katechismus, eines der wichtigsten Bekenntnisdokumente der reformierten Tradition weltweit, behandelt das Thema der Erwählung dagegen interessanterweise nicht primär im individuellen Erlösungshorizont, sondern im Rahmen seiner Diskussion von der Kirche: "Was glaubst du von der ‚heiligen, allgemeinen, christlichen Kirche’? Ich glaube, dass der Sohn Gottes aus dem ganzen Menschengeschlecht sich eine auserwählte Gemeinde zum ewigen Leben durch seinen Geist und Wort in Einigkeit des wahren Glaubens von Anbeginn der Welt bis ans Ende versammelt, schützt und erhält und dass auch ich ein lebendiges Glied dieser Gemeinde bin." (Frage 54) Hier kommt wiederum gerade das von Calvin so beständig betonte Trostmotiv deutlich zum Tragen.

Prädestination in der "Reformierten Scholastik"

Spekulationen über Gottes Souveränität im 17. Jahrhundert
Die auf Calvin folgenden Generationen reformierter Theologen, besonders die der sogenannten "reformierten Scholastik", waren von der Lehre der Prädestination sehr angetan, weil in ihr die Souveränität Gottes klar und deutlich zum Vorschein kommt, und so stellten sie diese Lehre an den Anfang aller ihrer dogmatischen Überlegungen. Damit lösten sie sie allerdings aus dem Zusammenhang von Christi Erlösungswerk und dem "Nutzen" der Gläubigen. Wenn Gott vor Anbeginn aller Zeiten seine Entschlüsse gefaßt hatte, dann sollte auch die Dogmatik damit beginnen, so scheint ihre Überlegung gewesen zu sein. Damit gewann jedoch der spekulative Charakter der Lehre immer mehr die Oberhand, wurde diese Lehre zu einem eher abstrakten Kennzeichen "wahren Reformiertentums", wie etwa auf der Synode von Dordrecht (1618-1619). Von einer biblisch-seelsorgerlich motivierten Lehre entwickelte sie sich zu einem metaphysisch-spekulativen System und trug so entscheidend zu ihrem schlechten Ruf in den folgenden Jahrhunderten bei.

Die Wieder-Entdeckung der Erwählungslehre

Karl Barth: Christus ist der Erwählte und auch der Verworfene
Erst das 20. Jahrhundert sah mit der Neuinterpretation der Erwählungslehre durch Karl Barth ein "Revival" prädestinarischer Gedanken. Barth interpretiert die doppelte Prädestination in einem neuen Sinne; es geht ihm nicht um Gottes doppelte Entscheidung, die einen zu retten und die anderen zu übergehen. Vielmehr geht es zuerst um Gottes Selbst-Prädestination dazu, ein gnädiger Gott zu sein und zweitens um die Prädestination der Menschheit dazu, von Gott erwählt und erlöst zu sein (William Stacy Johnson). Erwählt oder verworfen sind zu allererst keine Attribute, die auf Menschen zutreffen, sondern auf Gott: Gott ist in Jesus Christus sowohl der erwählende Gott als auch der erwählte Mensch; Prädestination ist also zunächst immer die göttliche Prädestination, Christus ist der Erwählte und auch der Verworfene. In ihm sind wir erwählt, es kann daher kein Gegenüber von Erwählten und Verworfenen unter den Menschen geben. Karl Barth folgend kann Prädestination dann also einen doppelten Effekt auf die christliche Gemeinde haben, zum einen löst sie alle Ängst und Zweifel bezüglich des eigenen Erwähltseins auf, zum anderen entzieht jeder arroganten Exklusivität, jedem Ausschluss der "Anderen" den Boden, denn im eigentlichen Sinne kann es keine Anderen geben, weil wir alle gemeinsam vor Christus stehen.

Keine "Leben-nach-dem-Tod-Versicherung"
Noch ein weiterer Aspekt der Erwählungslehre muß hier betont werden: Erwählung darf laut Barth nicht zuerst in individueller Perspektive verstanden werden. Erwählung bedeutet immer auch, wie schon der Heidelberger Katechismus betont hatte, Glied der erwählten Gemeinde Gottes und zum Dienst an Gott und seiner Schöpfung berufen zu ein. Sie ist kein Ruhekissen, keine "Leben-nach-dem-Tod-Versicherung".

Eine neue Identität für "nobodies"
In den letzten Jahren haben auch einige feministische Theologinnen mit reformierten Hintergrund trotz starker Kritik und vielen Zweifel an den traditionellen Prädestinationslehren damit begonnen, prädestinarische bzw. erwählungstheologische Gedanken in ihre theologische Überlegungen aufzunehmen. In diesem Zusammenhang werden insbesondere Themen wie die souveräne, inklusive Gnade Gottes, die Erwählung der Gemeinde zum aktiven Dienst und die Neudefinierung der Menschen, insbesondere der Marginalisierten, als der von Gott bedingungslos geliebten Erwählten aufgenommen. Ein solches Verständnis der Prädestination mag gar dazu beitragen, der erwählten Gemeinschaft (und in ihr gerade den "nobodies") eine neue Identität zu verleihen, eine Identität als geliebte Kinder und Bundespartner Gottes, die dem Bösen in der Welt zu widerstehen versuchen (Letty Russell). In diesem Sinne lassen sich dann vielleicht auch Aspekte der Prädestinationslehre, die doch schon begraben und vergessen zu sein scheint, für unser Zeitalter mit seinem ganz besonderen Kontext wieder fruchtbar machen.

Zitierempfehlung:
Margit Ernst-Habib, Die Lehre von der Prädestination - die Erwählungslehre (2007), www.reformiert-info.de: URL: http://www.reformiert-info.de/274-0-105-16.html (Abrufdatum)


©Margit Ernst-Habib (2007)
Zur Auseinandersetzung mit Max Webers These über den Zusammenhang von Calvinismus und Kapitalismus

Tagebuchaufzeichnungen reformierter 'Puritaner' aus dem 17. Jahrhhundert widerlegen die popularisierte Max-Weber-These. Calvinisten schufteten nicht aus Angst, verworfen zu sein. Von Frank Jehle, St. Gallen