Die Verantwortung der Gemeinde in der christlichen Erziehung

Vortrag vor Kirchenältesten von Kirchenpräsident Jann Schmidt

Es kann uns vom Evangelium her nicht gleichgültig sein, wie wir als christliche Gemeinde auf die Kinder in unserer Mitte zugehen. Es kann uns nicht gleichgültig sein, wie es den Kindern in unseren eigenen Reihen geht.

Kindsein
Momentaufnahme
Traditionsabbruch
Erziehung – christliche Erziehung
Aufwachsen in schwieriger Zeit
Wenn dein Kind dich morgen fragt
Verantwortung der Gemeinde
Perspektiv-Wechsel
Pflicht zur Deutlichkeit

Meine Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder, wir reden heute Abend über die Verantwortung der Gemeinde in der christlichen Erziehung. Wir fragen nach den Herausforderungen und Aufgaben für die Ortsgemeinde.

Es kann uns vom Evangelium her nicht gleichgültig sein, wie wir als christliche Gemeinde auf die Kinder in unserer Mitte zugehen. Es kann uns nicht gleichgültig sein, wie es den Kindern in unseren eigenen Reihen geht.

Kind sein ...

Möchten Sie heute Kind sein? Mit den Eltern in den Urlaub fliegen, ein eigenes Zimmer haben, nachmittags zum Handball oder zum Flötenunterricht gefahren werden, mit den Freunden per SMS die neusten Nachrichten austauschen?

Möchten Sie heute Kind sein? Allein den Tag zu Hause verbringen, weil Vater und Mutter arbeiten müssen? In den Ferien nur ein paar Tage zur Großmutter? Auf das ersehnte Mountainbike verzichten, weil die Klassenfahrt bezahlt werden muss?

Die Bedingungen unter denen Kinder heute aufwachsen, könnten kaum unterschiedlicher sein: die einen in Wohlstand, gut behütet und begleitet von ihren Eltern, verwöhnt von den Angeboten der Konsumgesellschaft.
Die anderen auf sich allein gestellt, die Eltern überfordert; ein Leben im Schatten der ständigen finanziellen Begrenztheit.

Ob ich heute Kind sein möchte? Ich weiß es nicht. Einerseits sehe ich die vielen Angebote, die Kindern heute gemacht werden. Andererseits weiß ich, dass auch in Deutschland viele Kinder in Armut aufwachsen. Die vielfältigen Möglichkeiten zur Lebensgestaltung sind längst nicht allen Kindern zugänglich.

Nun geht die Zahl der Kinder in Deutschland immer weiter zurück. Demographen sprechen von einer dramatischen Entwicklung bezüglich der Sicherung der Renten in den nächsten Jahrzehnten. Und sie sehen – wie viele andere auch – damit auf die Kinder von heute als die Zukunft der Gesellschaft von morgen. Aus dem einen oder andern Blickwinkel ist das auch vielleicht angebracht. Aber ist das den Kindern angemessen? Sind damit ihre Bedürfnisse, Wünsche und auch Hoffnungen berücksichtigt.

Sollten wir vom Evangelium her nicht eine andere Sichtweise haben? Da rückt Jesus selbst zum Beispiel im Kinderevangelium Markus 10,13-16 die Kinder in den Mittelpunkt:

Und sie brachten Kinder zu ihm, damit er sie anrühre. Die Jünger aber fuhren sie an. Als es aber Jesus sah, wurde er unwillig und sprach zu ihnen: Lasst die Kinder zu muir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Und er herzte sie, legte die Hände auf sie und segnete sie.

Nicht als kleine Erwachsene, sondern als Kinder werden sie ernst und angenommen. Kinder dürfen und sollen also zu Jesus gebracht werden, und weil ihnen das Reich Gottes gehört, dürfen sie auch getauft werden.

Das tun wir in unseren Gemeinden. Wir freuen uns über jedes Kind, dass das Zeichen des Bundes Gottes erhält. Fast 2000 Kinder sind im vergangenen Jahr in die Gemeinden der Evangelisch-reformierten Kirchen aufgenommen worden. Und wir – die Erwachsenen – erhalten im Rahmen der Taufe den Auftrag, den Kindern später von der Bedeutung ihrer Taufe zu erzählen und dafür zu sorgen, dass sie in unserer Gemeinde ein Zuhause finden. Beginnt hier die Verantwortung der Gemeinde in der christlichen Erziehung mit der Taufe, mit dem Kindergottesdienst, mit dem Krabbelgottesdienst?

Momentaufnahmen

Es ist Sonntag. In einer mittleren Kleinstadt läuten die Glocken. Die Gemeinde versammelt sich zum Gottesdienst. Die Kantorin hat noch einmal mit dem Posaunenchor die Choräle angeblasen. Einige Gemeindeglieder unterhalten sich leise in den Bankreihen der Kirche. Unter den etwa 80 Gottesdienstbesuchern sind eine Reihe von Gästen, die gerade an einer Wochenendfreizeit im nahegelegenen Freizeitheim teilnehmen. Der Gottesdienst beginnt und die Pastorin lädt ein: „Während der Predigt sind die Kinder nebenan im Gemeindehaus zum Kindergottesdienst eingeladen.“ Während des zweiten Liedes geht eine junge Frau durch den Mittelgang der Kirche. Ihr schließen sich acht oder zehn jüngere Kinder an, ein jugendliches Mädchen und eine Mutter mit einem Kleinkind auf dem Arm. Während des Schlussliedes kommen alle fröhlich springend aus dem Gemeindehaus in die Kirche zurück. Nichts Spektakuläres – Sonntagsalltag. Ein Angebot, wenigstens einen Teil des Gottesdienstes kindgemäß zu feiern. Was sie während der Predigt im Gemeindehaus gemacht haben? Die Eltern werden es erfahren. Aber die Gemeinde hat die fröhliche Kinderschar gesehen und die Kinder haben erfahren: Wir gehören dazu.

Schulalltag. Nach den sechs Stunden Unterricht Warten an der Bushaltestelle. Der Bus fährt über die Dörfer. Im Bus das übliche Geschubse und Gerangel. Später quer über die Dorfstraße, am Feuerlöschteich noch ein Stein ins trübe Wasser geworfen, zu Hause die blöden Hausaufgaben; aber dann am späten Nachmittag zur KIrche gerannt. Es kommen noch sechs, acht andere Kinder. Sie helfen dem Pastor mit auspacken: Tapetenrollen, Handwerkskasten, Materialblätter. Der Nebenraum der Kirche ist dunkel und riecht komisch. Aber da hängen Bilder von den Konfirmanden. Sie haben Collagen zu den zehn Geboten gemacht. Und auf dem Tisch steht ein Pappmodell von Jerusalem, an dem die Kinder gebastelt haben. Sie singen miteinander, sie erzählen. Abraham und Lot streiten sich. Konfirmandenalltag auf einem kleinen ostfriesischen Dorf. Einen eigenen Pastor hat die Gemeinde schon lange nicht mehr, die Gemeinde ist zu klein. Aber jeden Dienstagnachmittag kommt der Pastor zum Konfirmandenunterricht ins Dorf. Er wohnt zwölf Kilometer weiter weg und ist für vier Dörfer verantwortlich. Später, nachdem der Unterricht beendet ist, wird er noch zwei Hausbesuche machen. Frau Krause ist 80 Jahre alt geworden und Familie Hermann ist aus dem Ruhrgebiet neu zugezogen.

Sonntagnachmittag, 17.00 Uhr. Vor dem Gemeindehaus steht ein großer Reisebus. Pastor und Pastorin dirigieren jugendliche Mitarbeiter, die fleißig den Laderaum des Busses bepacken. Getränkekisten, Konservendosen, Zeltausrüstung, Sitzbänke, Spielmaterial. Nach und nach kommen Eltern mit ihren Kindern vorgefahren. Rucksäcke und schwere Koffer werden in den Bus verfrachtet. Gegen 18.00 Uhr ist alles verstaut. Kinder und Jugendliche haben im Bus ihren Platz gefunden. Der Bus fährt ab, für die zurückbleibenden Eltern haben die Kinder kaum noch einen Blick. Sie sind auf dem Weg ins Zeltlager. 14 Tage werden sie an einer Jugendfreizeit der Kirchengemeinde in Kroatien teilnehmen.

Drei Momentaufnahmen. Drei unterschiedliche Situationen, wie Kinder in den Kirchengemeinden wahrgenommen werden, wie die Gemeinde mit den Kindern umgeht.

Diesen drei Momentaufnahmen könnten auch drei Orte zugeordnet werden: Kindergottesdienst, Konfirmandenunterricht, Jugendfreizeit. Ist das die Verantwortung der Gemeinde in der christlichen Erziehung? Ist die christliche Gemeinde mit diesem Angebot ihrer Verantwortung gerecht geworden? Wir werden sehen.

Traditionsabbruch

Von Traditionsabbruch ist heute die Rede und von Individualisierung. Von Glaubensvergessenheit und Säkularisierung. Aber: Die Feststellung, dass die Kirche sich in einer Krise befindet, gilt nicht erst seit gestern. Die Prägekraft des Protestantismus sei ermattet, es gebe eine geistliche und geistige Erschlaffung, sagt Robert Leicht.

Und der Hessen-Nassauische Kirchenpräsident stellt fest: Die Evangelische Kirche ist aus dem Diskurs mit dem Gestaltungseliten der Gesellschaft herausgefallen. Ein Kennzeichen protestantischer Identität hat sich aufgelöst, die glaubensmäßige Präsenz evangelischer Laien und Theologen in de Steuerungsprozessen der Gesellschaft. Steinacker betrachtet diese Entwicklung als das Krisensignal für die Situation unserer Kirche.

Auch wenn man diese Zuspitzung nicht übernehmen will: Ein Signal ist es bestimmt. Erich Kästner beschreibt sehr viel eindrücklicher und direkter, was gemeint ist: Am Ende seines Films „Das doppelte Lottchen“ und auf den letzten Seiten des gleichnamigen Buches kommt es zu folgender Szene: Die Zwillinge waren getrennt. Mit viel List haben sie sich und ihre Eltern wiedergefunden. Die Eltern überlegen, ob sie dem Wunsch der Kinder folgen und zusammen bleiben wollen. Die Mädchen warten vor der Tür des Zimmers, in dem die Eltern miteinander sprechen, und eines sagt zum andern: Wenn wir doch jetzt beten könnten. Aber die beiden wissen keine Gebete mehr, nur noch eins: Komm Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.

Ich bin mir nicht sicher, ob damit die gesellschaftliche und kirchliche Situation überzeichnet ist? Aber nur einmal angenommen: es ist so oder zumindest so ähnlich, dann ist es mehr als nachvollziehbar, wenn Kirchenälteste der Grafschaft Bentheim sich mit dem Thema auseinandersetzen: Die Verantwortung der Gemeinde in der christlichen Erziehung.

Und wenn die von Robert Leicht oder die von Peter Steinacker oder auch schon vor fünfzig oder sechzig Jahren von Erich Kästner vorgetragene Situationsbeschreibung auch nur annähernd stimmt, dann ist es höchste Zeit, dass wir als Gemeinde nach unserer Verantwortung in der christlichen Erziehung fragen.

Erziehung – christliche Erziehung

Aber was ist eigentlich Erziehung? Der Ausdruck Erziehung wörtlich genommen, kann irreführen. Er hat so etwas anstrengendes an sich. Nun wird niemand bestreiten, dass ein Leben mit Kindern anstrengend sein kann. Die Frage ist aber, ob und wie Eltern und Gemeinde sich anstrengen müssen, um Kinder zu erziehen, sie dahin zu ziehen, wo sie und andere oder vielleicht sogar Gott sie haben wollen.

Viele Eltern, auch viele Gemeinden, strengen sich gewaltig an, um aus den Kindern etwas zu machen. Die Eltern haben gelernt, dass es allein von ihnen abhängt, was aus dem Kind wird. Gerät es auf die schiefe Bahn, dann sind die Eltern schuld. Diese einseitige Verantwortungs- und Schuldzuweisung hat eine lange Tradition.

Ich will ein anderes Wort in die Diskussion bringen. Es ist ein Fremdwort, ein Wort aus dem Englischen: Education. Es stammt aus dem Lateinischen. Es klingt freundlicher, ermutigender: es heißt herausführen und weist auf das Ziel eines freien, eigenständigen Erwachsenen, der die Führung durch Erzieher nicht mehr braucht. Herausführen meint also die freie Entfaltung des Kindes zu gewährleisten, keinen Einfluss zu nehmen, der dem eigenständigen Wachsen des Kindes entgegensteht: Herausführen aus dem Kindsein – begleiten auf dem eigenen Weg zum Evangelium.

Und noch ein Ansatz: Erziehung und Beziehung gehören zusammen. Es ist unbestreitbar, dass das Verhältnis von Eltern und Kindern und das Verhältnis der Gemeinde zu ihren Kindern ein Beziehungsverhältnis ist. Es ist also ein Hinüber und Herüber, ein wechselseitiger Prozess. Beziehung eben. In dieser Beziehung wachsen und reifen Eltern und Kinder; Gemeinde und Kinder.

Soviel zunächst zur Begriffsbestimmung, zur Erziehung, also dem Hinziehen, dem dahin Ziehen, wo wir die Kinder haben wollen oder eben zum freundlichen Herausführen oder Anleiten. Beides aber, das Ziehen oder Hinziehen oder auch das Führen oder Leiten kann nur in einem Prozess der Beziehung geschehen. In einer Beziehung zwischen Gemeinde und Kind.

Und was ist christliche Erziehung? Christliche Erziehung beginnt nicht erst, wenn von Gott gesprochen wird. Sie geschieht in der Familie vom ersten Tag an in der liebevollen Zuwendung, die Kinder erfahren. Wenn ein Kind die Eltern als zuverlässig erlebt, tröstend, schützend und freilassend, kann es auch Gott zutrauen, dass er uns schützend, tröstend und befreiend zur Seite steht.

Christliche Erziehung: Ein Hinziehen, ein Hinführen zum Glauben?

Aufwachsen in schwieriger Zeit

Kindern unserer Zeit wachsen in eine Gesellschaft hinein, in der es viele Überzeugungen gibt. Sie werden in einer Gesellschaft groß, in der die Tradition verblasst. Aufwachsen in schwieriger Zeit – unter diesem Thema hat vor einigen Jahren sich die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland mit den Kindern und Jugendlichen in Familie, Schule und Gesellschaft auseinandergesetzt. Die EKD-Synode hat gefragt: Welche Kirche braucht das Kind? Und sie hat geantwortet: Die Kinder brauchen eine Kirche, die sich durch sie prüfen lässt, die für sie eintritt, die ihnen Raum zum Aufwachsen gibt und das Evangelium als Lebenserfüllung anbietet.

Die EKD-Synode hat aber auch andersherum argumentiert und gesagt: Die Kirche braucht Kinder, um von ihnen und mit ihnen zu lernen. Von ihrem Kindsein als einer unvergleichlichen eigenen Form des Menschseins, von selbständigen religiösen Entdeckungen und Frageweisen, in denen ihr Weg zum christlichen Glauben auf dem Spiel steht.

Niemand will bestreiten, dass sich die Kirche von je her für Kinder in besonderer Weise engagiert hat und noch weiter engagiert. Die Momentaufnahmen, die ich am Anfang zitierte sind ja nur kleine Beispiele. Es gibt ein großes Engagement in Kirche und Gemeinde, wenn es um Kinder und Jugendliche geht. Und dieses Engagement wird in der Gesellschaft und auch von uns allen, die wir zur Kirche gehören, positiv wahrgenommen und gewürdigt.

Aber sehen wir einmal genau hin: Wie sieht unser Engagement für die Kinder und Jugendlichen aus? Wohin wollen wir sie ziehen, wohin wollen wir sie führen, welche Wege werden geöffnet? Sind sie Objekte unserer Fürsorge und Erziehung? Ziehen wir sie auf den Weg, den wir für Richtig erachten? Sind unsere Angebote ausgerichtet und so zugeschnitten, dass sie mehr unseren Vorstellungen als denen unserer Kinder und Jugendlichen entsprechen?

Ohne Frage: Die Gemeinden tun viel für die Kinder und dennoch behaupte ich hier: Die Kinder haben es in unserem gemeindlichen Leben schwer, als Subjekte, d.h. als Mädchen und Jungen mit ihren Fragen mit ihren Einsichten und Interessen wahrgenommen zu werden. Und auch das Thema des heutigen Abends „Die Verantwortung der Gemeinde in der christlichen Erziehung“ macht sehr deutlich, dass die Gemeinde, also die erwachsene Gemeinde Subjekt der Erziehung ist, handelnd an den Kindern gesehen wird. Es geht also – und das meine ich überhaupt nicht negativ – um die Aufgaben, die Erwachsene an Kindern haben.

Und da setzt meine Frage an: Nehmen wir die Kinder so wahr, wie sie wirklich sind? Sind wir vielleicht blind für das, was sie eigentlich brauchen? Ihre besonderen Einsichten, ihre Ausdrucksmöglichkeiten und Gaben, mit denen sie uns und unsere Gemeinden innerlich bereichern. Werden diese Einsichten, Ausdrucksmöglichkeiten und Gaben nicht häufig übersehen?

Wenn dein Kind dich morgen fragt ...

Nicht von ungefähr heißt das Thema des nächsten Evangelischen Kirchentages in Hannover:
Wenn Dein Kind Dich morgen fragt ...
Der Satz stammt aus dem 5. Buch Mose Kapitel 6. Und der Vers geht weiter. Vers 20: Was sind das für Vermahnungen, Gebote und Rechte, die euch der Herr, unser Gott geboten hat? So sollst du deinem Kind sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der Herr tat große und furchtbare Zeichen und Wunder an Ägypten und am Pharao und an seinem ganzen Hause vor unseren Augen und führte uns von dort weg, um uns hinein zu bringen und uns das Land zu geben, wie er unsern Vätern geschworen hat.
Nun, dass wir den Herrn, unsern Gott, fürchten, auf dass es uns wohlgehe unser Leben lang, so wie es heute ist und das wird unsere Gerechtigkeit sein, dass wir alle diese Gebote tun und halten vor dem Herrn, unserm Gott, wie er uns geboten hat.

Hier erfahre ich nicht nur, was weitergegeben werden soll, ich höre auch, auf welche Weise und warum dies geschehen soll. Der Vater, so heißt es im Text, gibt das schon ihm selbst Überlieferte seinem Kind weiter. Dabei verwendet er eine im Wortlaut feststehende Formel, sowie auch das Kind in einer festen Formel nach dem Sinn der religiösen Bräuche gefragt hatte. Würde der Vater dem Kind die Antwort verweigern, oder wüsste er nicht, was er antworten soll, die Bräuche würden bald unverständlich, sie würden sinnlos und alsbald aussterben.

Die Formel zeigt, dass man die Weitergabe der Überlieferung nicht dem Zufall überlassen wollte. Der Text zeigt, dass das Verkündigen, das Erzählen von der vergangenen Gottestat dazu dient, Gott auch gegenwärtig zu erkennen und zu bekennen. Durch Erzählen soll das vergangene Geschehen Gegenwart werden und bei den Zuhörern Glauben wecken und Glauben lebendig halten. Herkunft ist Zukunft. Oder: Zukunft ist Erinnerung, Zukunft lebt von der Erinnerung.

Wenn dein Kind dich morgen fragt ...
Das Zitat aus 5. Mose 6 setzt voraus, dass gefragt wird; setzt voraus, dass Gelegenheit zur Frage ist. Aber: Wird heute wirklich gefragt? Nach Gott gefragt? In der Gemeinde? Geben wir Kindern und Jugendlichen den Raum, die Gelegenheit zur Frage? Wo wird heute wirklich noch gefragt? Wo wird in der Kirche gefragt? Hat nicht auch die Kirche teil an der Fraglosigkeit unserer Zeit? Trifft vielleicht doch zu, was Hans Dieter Bastian schreibt:
Der evangelische Kirchensteuerzahler handelt in den volkskirchenlichen Sozialautomatismen, die ihn von der Taufe über verschiedene Kasualien und einige Kirchenjahresfeste fließbandartig zur Bestattung transportieren, ohne ihn jemals zum Fragen zu motivieren.

Es ist unsere Aufgabe, das Evangelium an die jeweils nächste Generation weiterzugeben. Und in dieser Aufgabe liegt begründet, warum die Kirche als Institution existiert. Weil wir das Evangelium weiter zu sagen haben, brauchen wir die Gemeinde. Dafür brauchen wir feste Orte und feste Formen. Der christliche Glaube lebt von der Erinnerung, von der Erinnerung an vergangenes Geschehen. Und diese Erinnerung wird zur Orientierung für das Leben in der Gegenwart. Und darum ist Tradition ein Grundzug biblischen Denkens und christlichen Glaubens. Und darum kann Erziehung, christliche Erziehung - wie sie von der Gemeinde verantwortet werden muss - nur zwischen diesen beiden Polen geschehen: Zwischen Erinnerung und Zukunft. Denn Erinnerung gestaltet Zukunft.

Sie werden mir zustimmen, wenn ich feststelle: In die Zukunft sehen können wir nicht. Sie werden mir ebenso beipflichten, wenn ich feststelle, dass wir unsere Kinder für morgen vorbereiten wollen. Dass auch christliche Erziehung der Gemeinde auf morgen und übermorgen ausgerichtet ist und nicht nur sich auf den heutigen Tag beschränkt.

Aber ich bleibe dabei: In die Zukunft sehen können wir nicht. Es ist wie als wenn wir in einem Auto mit zugeklebter Frontscheibe fahren. Der Blick durch das Heckfenster ist da, der Blick durch die Seitenspiegel und Seitenfenster ist gegeben. Wir können also sehr genau sehen, woher wir kommen, wir sehen im Rückspiegel die Mittellinie, wir sehen die Seitenstreifen, wir sehen was hinter uns liegt. Wir sehen, welche Schritte wir in der christlichen Erziehung gegangen sind. Wir sehen, woher wir kommen. Aber wohin wir gehen, was morgen oder übermorgen sein wird, das ist denen nicht gegeben, die in dem Auto mit der zugeklebten Frontscheibe sitzen.

Und darum sage ich, dass Tradition und Erinnerung in der Gemeinde um des Glaubens selbst willen notwenig sind. Und dass auch christliche Erziehung nur von der Tradition und von der Erinnerung her gelingen kann. Der Ort aber, an dem die Erinnerung gepflegt wird, der Ort aber, an dem die Tradition gewahrt wird, der Ort heißt Gemeinde. Und darum ist es nur folgerichtig, wenn Kirchenälteste aus der Grafschaft nach der Verantwortung der Gemeinde in der christlichen Erziehung fragen.

Die Verantwortung der Gemeinde

Lange bevor ein Mensch glaubt, haben vor ihm andere geglaubt. Er ist Glied in einer Kette von Glaubenden. Nach ihm werden Kinder und Kindeskinder diese Kette fortsetzen. Wie können wir nun in der Gemeinde günstige Voraussetzungen dafür schaffen, dass unsere Kinder und deren Kinder den Glauben übernehmen und weiterentwickeln?

Darum geht es doch, wenn wir nach der Verantwortung der Gemeinde für die christliche Erziehung fragen. Um die Weitergabe des Glaubens geht es in der christlichen Erziehung. Um die Weitergabe des Glaubens, als Hilfe zum Leben. Da wird kein schwerer Sack mit lauter für wahr zu haltenden Sätzen auf die Schulter gelegt. Da wird vielmehr ein Weg gezeigt, Lebens- und Glaubenszuversicht zu gewinnen. Auf diesem Weg geht keiner allein, Junge und Alte, Frauen und Männer gehen ihn gemeinschaftlich.

Mündige Christen sagen weiter, was an Glaube, Liebe und Hoffnung in ihnen lebendig ist. Soll der Glaube aber das Leben erfüllen, muss er als etwas eigenes angenommen werden. Dazu gehören eigene Erfahrung und eigene Einsicht. Weitergabe des Glaubens betrifft den ganzen Menschen in jedem Alter. Und da hat jeder Abschnitt auf dem Weg des Glaubens seine eigene Bedeutung. Für das Kindergartenkind und das Vorschulkind anders als für Schüler; für Jugendliche anders als für junge Erwachsene. Das Wort Gottes will kundgetan und mitgeteilt werden. Nicht nur in den gottesdienstlichen Versammlungen, sondern auch mit Wort und Tat im Alltag der Welt. Wenn dein Kind dich morgen fragt...

Aber wir sollten uns noch einmal vor Augen führen: Wer glaubt, hat zuvor gehört. Er hat das Wort Gottes als lebendige Stimme vernommen. Ihm ist im Menschenwort der Zeugen und Boten das Gotteswort begegnet. Er hat dieses Wort angenommen. Glaube entsteht und lebt allein aus diesem Ereignis. Der Glaube ist darum der von Gott gegebene und gesetzte ganz neue Anfang. Aber Glaube ist nie fertig und gesichert. Was gestern vernommen und aufgenommen wurde, muss heute und morgen neu gehört und mit allen Konsequenzen eventuell zu einer Neuorientierung führen. Christliche Erziehung nennt man das.

Hier liegt die Verantwortung der Gemeinde. Denn der christliche Glaube versteht sich nicht von selbst. Er ist weder eine natürliche Gabe des Menschen, noch lässt er sich ohne persönliche Hinwendung zu Christus von Generation zu Generation vererben. Den Glauben zu wecken, entzieht sich unserer Verfügbarkeit. Wir können nur dem Geist Gottes vertrauen, dass er dem im Evangelium verkündigten und in der Taufe zugesicherten Ja Gottes die Antwort des Glaubens hinzufügt.

Die Anweisung aus dem Alten Testament: Wenn dein Kind dich morgen fragt, so sollst du antworten... ist heute oft ins Leere gesprochen, da viele Eltern ihren Kindern keine Antwort mehr geben können oder wollen. Sie haben sich zu weit von der gottesdienstlichen Gemeinde entfernt, um die alten Formen noch erklären und mit ihren Kindern einüben zu können.

Und hier setzt die Verantwortung der Gemeinde für die christliche Erziehung ein. Denn: Kinder und Jugendliche, die keine Antwort bekommen, gewöhnen sich das Fragen ab. Glaube und Lebenswirklichkeit werden für sie zu weit von einander entfernten Welten und das hat Folgen. Die biblischen Geschichten prägen die kindliche Erlebniswelt nicht mehr, die Sprache von Gebeten, Lesungen und Liedern wird als fremd und unverständlich empfunden. Die Predigt setzt Erfahrungen voraus, die nicht gemacht worden sind. Und mit dieser Entwicklung darf sich die Gemeinde nicht abfinden. Und darum hat sie eine Verantwortung in der christlichen Erziehung.

Perspektivwechsel

Kein Zweifel: In unseren Gemeinden wird viel für die Kinder getan. Man muss sich nur die Gemeindebriefe ansehen: Tauferinnerungsgottesdienste, Kindergottesdienste, Kinderfeste, Kindergruppen, Kinderchöre, Kinderbastelnachmittage, Krabbelgottesdienste. Groß ist das Engagement gerade auch der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die mehr als 24.000 Kinder unter 12 Jahren, die in unsern Gemeinden leben.

Aber viele dieser Angebote werden erarbeitet und vorbereitet aus dem Blickwinkel von Erwachsenen. Sie bestimmen, was für die Kinder gut ist. Sie überlegen, was sie für Kinder anbieten können. Das ist sicherlich wichtig und soll an dieser Stelle auch nicht kritisiert werden. Aber ist das die Verantwortung der Gemeinde in der christlichen Erziehung?

Ist es nicht ebenso möglich, die Blickrichtung zu ändern, einmal von den Kindern her zu denken, sie nicht als unfertige Wesen zu betrachten, sondern sie als Menschen in einer besonderen Lebensphase anzusehen?

Dabei geht es um eine veränderte Fragestellung: Wie steht die Gemeinde zu den Kindern, die in ihr leben? Wie nimmt die Gemeinde die Kinder wahr? Wie erleben die Kinder die Gemeinde? Es geht dabei um einen Perspektivwechsel: Wie muss eine Gemeinde sein, damit Kinder darin ihren Platz finden, damit die Gemeinde nicht nur erwachsenengerecht, sondern auch kindgerecht ist?

Wenn sich Gemeinden auf diese Weise für die Arbeit mit Kindern einsetzen, wird das Folgen haben: Auf die Gestaltung der Räume für die Kinder, auf die Bereitstellung von Finanzen, auf die Mitbestimmung von Kindern für ihre Angebote. Und nicht zuletzt wird sich der Umgang mit Fragen des Glaubens ändern – auch für die Erwachsenen: Neugierig, unbefangen, staunend, zweifelnd, fröhlich – solche Eigenschaften haben Kinder und sie zeigen sie.

Mit diesen Eigenschaften gehen sie auch mit den Geschichten der Bibel um. Uns ist diese Unbefangenheit oft abhanden gekommen. Entdecken wir die Bibel und die Gemeinde unter der Anleitung unserer Kinder neu. Das ist ein Perspektivwechsel

Pflicht zur Deutlichkeit

Und worin – ich komme zum Schluss – liegt nun die besondere Verantwortung der Gemeinde für die christliche Erziehung:
Für die Kirchen, für die Gemeinden, ergibt sich in diesen Zeiten die strenge Pflicht zur Deutlichkeit. Die Gemeinde soll sich nicht durch alles mögliche interessant machen, sie soll ihre Geschichte erzählen.

Vielleicht zwingt uns die finanzielle Knappheit zur Kontur und Eigentlichkeit. Ich meine damit nicht, dass die Kirche sich im innerreligiösen Geplapper erschöpfen soll. Die Kirche soll Zeitgenossin sein und die Fragen und Ängste einer Zeit in ihre Räume und in ihre Rede hineinlassen. Die Hauptfrage aber ist, ob unsere Rede aus dem Grundgespräch mit jener alten Tradition kommt, aus der wir kommen. Die für die Kirche Redenden – ob auf der Kanzel, im Unterricht, im Fernsehen oder in den Morgenandachten – sie haben kein Recht dazu, sich in der eigenen Ratlosigkeit zu erschöpfen. Sie sind verpflichtet, eine Lehre zu haben.

Traditionen, Erinnerungen, grundlegende Erzählungen halten sich nur schwer, wenn sie keinen anderen Ort haben als das Herz und den Mund der einsamen Subjekte. Sie sind an kommunitäre Gebilde gebunden, an das Dorf, an Gemeinschaften, an Gruppen, an die Gemeinde eben. Es verblasst nicht nur das traditionelle Wissen, die Welten sind untergegangen, in denen sich solches Wissen halten konnte.

Die Kirche, die Gemeinde ist eine der wenigen Orte, an denen eine Kultur der Überlieferung möglich ist. Überlieferungen halten sich, indem sie in Gruppen kursieren. Die Kirche ist eine solche kostbare Gruppe, fast die einzige noch in unserer Gesellschaft, und darum sind dort die Überlieferungen zu erwarten.

Was können die Kinder von ihrer Gemeinde erwarten?
1. Dass sie in der Gemeinde lernen können, mit Gott zu leben, zu Gott zu beten, von Gott zu reden, mit Gott Vertrauen zum Leben zu gewinnen.
2. Dass sie lernen, mit anderen Menschen zu leben, auf andere Menschen zuzugehen, mit unfreundlichen Menschen umzugehen, den friedlichen Streit einzuüben und die eigene Meinung zu sagen, im andern Menschen ein Geschöpf zu sehen.
3. Dass sie lernen in ihrer Welt, in ihrer Gesellschaft zu leben. Die Wohltat einer Familie anzuerkennen, Freundschaft und Nachbarschaft zu entdecken, über den Tellerrand zu schauen und zu merken, wie viele Menschen es auf der Welt gibt, wie unterschiedlich Menschen leben, dass es arm und reich gibt, und dass es nicht allein nur um mein Recht geht, sondern auch um das Recht des Nächsten.
4. Das Kind kann von der Gemeinde erwarten, dass es in ihr seinen Platz hat und beim Aufwachsen in schwieriger Zeit Menschen findet, die es begleiten und ihm helfen, erwachsen zu werden. Auch erwachsen im Glauben.

Wie kann die Weitergabe des christlichen Glaubens anders geschehen als so, dass das, was ich glaube, dort mit dem Menschen geteilt wird, wo er zu Hause ist, geprägt von Tradition und Gewohnheit, von Erziehung und Sprache; dass er mit seinen Möglichkeiten, die er hat, an meinem Glauben teil hat – christliche Erziehung eben

Nicht anders vollzieht sich auch die Begegnung zwischen mir bzw. meinem Glauben und dem Kind. Das Kind muss nicht unkindlich behandelt werden, es muss nicht künstlich erwachsen werden und Erwachsenenbedingungen erfüllen, um einer sachgerechten christlichen Unterweisung folgen zu können, um an der Gemeinschaft mit Jesus Christus teilhaben zu können. Es geht darum, dem Kind in seiner Situation mit den Gottes- und Menschengeschichten – also mit der Sache – zu begegnen und dann kann das Kind im Glauben wachsen – da liegt die Verantwortung der Gemeinde in der christlichen Erziehung:

Das Kind nicht zu ziehen, nicht hinziehen oder gar zerren, sondern das Kind führen, anleiten und es in seiner Welt aufwachsen lassen ...

(Vortrag anläßlich einer Tagung von Kirchenältesten am 31. Januar 2005 im Kloster Frenswegen)


Jann Schmidt