Ecco Homo oder: Das Kruzifix und Auschwitz

Gedanken zur Passion


© Andreas Olbrich

von Hans Adolf Rosenboom, Pastor i.R.

Wenn es zutrifft, daß das Bild im Auge des Betrachters entsteht, dann sehe ich über vielen modernen Kruzifixen einen Grauschleier von Auschwitz. Bei einem zeitbewußten und sensiblen Künstler darf das auch nicht überraschen; bzw. man kann erwarten, daß er sich mit dieser gedanklichen Verknüpfung auseinandergesetzt hat. Was Auschwitz angeht, stehen die Täter fest, die Opfer sind bekannt. Nicht geklärt ist die Frage, [...] ob der Mann am Kreuz etwas gemein hat mit dem Auschwitzhäftling, der an seinen hinter dem Rücken gebundenen Händen an eine Stange gehängt wurde und einem Gekreuzigten ähnlich sah. Das ist zugleich die Frage, ob der Mann am Kreuz an den Häftling in Auschwitz überhaupt erinnern darf oder gar soll. [...]

Was hat Jesus mit Primo Levi und seinen Todesgefährten von Auschwitz gemeinsam?

In der romanischen Kirche in Paunat im Perigord begegne ich im Chorraum einem fast lebensgroßen Jesus an zentraler Stelle am Kreuz. Er hängt wirklich, an Armen, die beinahe parallel gestreckt sind, so wie die der Häftlinge, die man hinterrücks an eine Eisenbahnschiene, hoch wie eine Teppichstange, gehängt hat. Ich habe diese Stange 1986 in Auschwitz gesehen.

Die Darstellung des Gekreuzigten war im Laufe der Frömmigkeitsgeschichte Wandlungen unterworfen. Den ersten Generationen der Christen war das Kreuz erschreckend und schändlich, konnte sie doch in Zeiten der Verfolgung dasselbe Schicksal ereilen. In der römischen Literatur finden sich auffallend spärliche Beschreibungen von Kreuzigungen, weil diese Art der Hinrichtung den Römern selbst als so schändlich ( mors turpissima ) galt, daß man darüber am besten nicht schrieb, am wenigsten über ein ekelhaftes Detail der Kreuzigungstechnik: Auf halber Höhe wurde ein Holzpflock in das Kreuz geschlagen, auf dem der völlig entkleidete Gekreuzigte „ritt“ und der ihm „Halt“ gab, wenn die Sehnen der Handgelenke, durch die die Nägeln getrieben waren, ausreißen sollten. Das Reiten auf dem Pflock verzögerte auch den Kreislaufkollaps und verlängerte die Qual des Sterbens. ( vgl. S. Kettling und E. Tzschoppe, Herr, unser Herrscher – Die Joh. Passion von J.S.Bach theologisch und musikalisch erklärt, Hänssler-Verlag 2002, S. 201).

Dieser Pflock geriet in Vergessenheit, wäre andernfalls von den späteren fromme Bildhauern und Malern auch schamhaft übergangen worden. Der letzte Hauch von Heroik des Mannes am Kreuz  wäre sonst verflogen. Ohne diese beschämende Banalität konnten hellenistische Augen in dem Gekreuzigten auf Golgota immer noch den heldenhaften Prometheus sehen, den die Götter an den Felsen des Kaukasus geschmiedet hatten.

Die älteste erhaltene Darstellung des Gekreuzigten ist eine Wandzeichnung in Rom, das sog. Spottkruzifix vom Palatin, ein gekreuzigter Esel. Die älteste plastische Jesusdarstellung habe ich im Nationalmuseum der Antike in Athen gesehen: eine knabenhafte, etwa 70 cm hohe Marmorfigur aus dem 3. oder 4. Jahrhundert, der Hirte, der ein Lamm auf den Schultern trägt, also der Typos des guten Hirten und nicht der Gekreuzigte.

In einem alten Kirchenlied heißt es : „Da Christus an dem Kreuze stund…“. Das ist schon der herrscherliche Christus der christlichen Könige und Kaiser des frühen Mittelalters, mit aufgerichtetem, gekröntem Haupt, lebendig, mit offenen Augen, mit waagerecht ausgebreiteten Armen, die eher zum Segnen ausgestreckt als zwangsweise gekreuzigt sind. Die Evangelien berichten: „Und sie kreuzigten mit ihm zwei Räuber (Schächer), einen zu seiner Rechten und einen zu seiner Linken“ (Mk.15, 27 par.).

Wenn ich mir Bilder oder Skulpturen der Golgota-Szene in Erinnerung rufe, bemerke ich, daß die beiden Schächer anders als Jesus gekreuzigt sind. Meist sind sie nicht ans Kreuz genagelt, sondern gebunden, die Ellbogen über dem Querholz, in verkrümmter Haltung, etwa in Rembrandts Radierung von 1653 „Die drei Kreuze“. Von den drei Kreuzen ist das Kreuz Jesu auch immer das herausragende. Diese historisch unwahrscheinliche, in der darstellenden Kunst unterschiedliche Behandlung der Todeskandidaten, die gleichzeitig auf demselben Platz hingerichtet wurden, hat ihren Grund darin, daß das Maß des Leidens Jesu aus dogmatischen Gründen unübertroffen sein sollte.

Nur auf ihn sollte zutreffen, was der Prophet Jesaja von dem stellvertretenden Leiden des Gottesknechtes geweissagt hatte: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.“ (53,4) Nur einer allein konnte als Sohn Gottes gekreuzigt werden. Exklusiv trug er die Sünde der Welt (Joh 1,29). Später wurden die Marterwerkzeuge Jesu zu Gegenständen frommer Verehrung, darunter auch die vier Nägel - und keiner mehr - die man zu seiner Kreuzigung verwandte. An romanischen Kreuzen steht er, die Füße werden von einem Holzkeil gestützt, den es in Wirklichkeit nie gegeben hat.

Dann kam die große Pestzeit über ganz Europa in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Die Ausweglosigkeit angesichts des allgegenwärtigen Todes fand ihren Ausdruck in dem gotischen Schmerzensmann, der tot, mit geneigtem Kopf am Kreuze hängt, nicht mehr mit einer königlichen Krone, sondern mit einem Kranz von dornigen Ästen gekrönt; Blut läuft ihm über das Gesicht. Der bis dahin aufrechte Mann verbiegt sich zu einem S. Eine weitere Wende erlebte die Darstellung  Jesu am Kreuz  in der Barockzeit, die  bis heute formbildend geblieben ist. Die katholische Kirche forcierte in der Zeit der Gegenreformation ein Heiligen-Bild-Programm gegen die Schriftbezogenheit der Protestanten. Als Beispiel nehme ich Francisco de Zurbarán (1598 bis 1664), dessen Werke ich bei meinen Besuchen im Prado gesehen habe. „Das wenige Fleisch, das der Barockmaler aus Sevilla darbieten durfte, zeigt er am schönsten im göttlichen Fleisch des Gegeißelten und Gekreuzigten.“ (Eduard Beaucamp)

Der hängende Christus von Paunat ist aus poliertem Nußbaumholz, ein modernes Werk. Das Holz ist nach seiner Eigenart dunkel und stark gemasert, zwischen braun und fast schwarz scharf getrennt. Die Maserungen laufen nicht parallel zur Anatomie. Das ergibt eine Zerrissenheit, die der Künstler vielleicht gewollt hat. Der Mann am Kreuz ist nicht ausgemergelt, wie üblich beim Typ des Schmerzensmannes. Der muskulöse Körper ist vielmehr deformiert, der Bizeps ist in atypischer Form angespannt. Ich spüre: Der Künstler hat etwas gewollt und nicht fertig gebracht, weil er es nicht konnte oder weil es nicht möglich ist. Oder er hat etwas zum Ausdruck gebracht, das ich nicht verstehe.

Ich habe noch einmal die Erinnerungen des Juden Primo Levi an seine KZ-Haft in Auschwitz gelesen „Ist das ein Mensch?“ (Carl Hanser Verlag 1988), das fragende Ecce homo? eines jüdischen KZ-Häftlings in Auschwitz. Es ist nicht randlos zu verschmelzen auf das Ecce homo, das Pilatus angesichts des gefangenen Jesus ausruft: „Siehe, welch ein Mensch!“ (Joh 19,5). Aber gleichwohl kann ich nach Auschwitz den Nazarener am Kreuz nicht mehr so solitär sehen wie vorher.

Du sollst dir kein Bildnis machen

Derweil  besinne ich mich auf meine calvinistische Tradition, die das 2. Gebot der Bibel, 2. Mose 20: „Du sollst dir kein Bildnis machen“, nicht unterschlug, sondern befolgte. Ich bin in einer bildlosen Kirche ohne Altarkerzen groß geworden. Woran ich mich erinnere, das ist der lichtvolle Raum unter hohem Tonnengewölbe, die Stimme des Predigers und der brausende Psalmgesang der Gemeinde. Ich bin in einem frommen Elternhaus ohne Kreuz und Heiligenbilder aufgewachsen. Ich erinnere mich an eine Bibel (ausgesprochene Kinderbibeln gab es noch nicht), deren Seiten von farbigen Reproduktionen durchsetzt waren, Gemälde des Malers Rudolf Schäfer (1876 – 1961). Auf zwei Bildern war ein Kreuz. Das war für mich beängstigend: Die Krippe im Stall zu Bethlehem; im Hintergrund auf der Rückwand warf die Krippe einen Schatten in Form eines Kreuzes. Das andere war die Kreuzigung selbst auf Golgota. Beim Blättern in dieser Bibel hatte ich immer Angst, auf diese Bilder zu stoßen.

Bis heute hat sich bei mir eine Scheu, oft ein Widerwille gegen Kruzifixe  gehalten. Ich denke an einen Urlaub in Südtirol, wo fast an jeder Weggabelung beim Wandern ein Marterl mit dem Gekreuzigten auftaucht. Es wäre einer psychologische Untersuchung wert, wenn es sie nicht schon längst gibt, ob nicht die Kirchen mit ihrer ostentative Zurschaustellung des Mannes am Kreuz einem sublimen Todestrieb oder Sadomasochismus in der abendländischen Kultur Vorschub geleistet haben. Es gibt zwar eine abstrahierende protestantische Kreuzestradition, die auf die figürliche Darstellung des toten Mannes verzichtet und es bei den gekreuzten Balken bewenden läßt. Aber wer stellt einen Laternenpfahl auf und verzichtet auf die Laterne, oder wer hängt einen Rahmen ohne Bild an die Wand?

Ich erinnere mich an den Konfirmandenunterricht bei meinem Vater. Ein Mädchen fragte ihn, ob man sich ein Kreuz als goldenes Schmuckstück umhängen dürfe. Er fragte zurück: „Würdest du dir auch einen goldenen Galgen, und sei er noch so klein und fein, umhängen? Das Kreuz ist nichts anderes als ein Galgen.“

Ich meine, daß man sich heute – nach allem, was ich oben erörtert habe und was man sonst noch zur Ambivalenz von Bildern in unserer zunehmend mit Bildern zugemüllten Welt sagen muß - erneut auf einen bildlosen Gottesdienst und Kultraum verständigen und sich nicht weiter dem Trend der letzten Jahrzehnten hingeben sollte, in denen der Protestantismus in seiner Kultpraxis eine Verschiebung von der Schriftkultur zur Symbolkultur vollzieht.

Der protestantische Gottesdienst war bislang ein Wortgottesdienst. Erst recht der reformierte Gottesdienst betonte das Wort vor dem Zeichen, das Ohr vor dem Schauen des Bildes, die Musik vor den darstellenden Künsten, und die reformierte Frömmigkeit, mit der ich groß geworden bin, war eine rationale und wenig emotionale. Wir waren fromm, ohne je einen Hauch von Erweckung gespürt zu haben. Diese Art Frömmigkeit – so behauptete mein Vater – verdanke sich eher dem philosophischen Rationalismus als biblischen Einsichten. Sei’s drum. Ernst Wolf in Göttingen pflegte zu sagen: Die Zeit des Rationalismus und der Aufklärung war bisher das menschlichste aller Zeitalter.

Ein Nachsatz zu den Heiligenbildern, die man heute in den Kirchen sehen kann: Hin und wieder hat ein neuer Typ des Heiligenbildes in katholischen, hier und da auch in evangelischen Kirchen Eingang gefunden, nicht plastisch, aber als Tafelbild: die russisch-orthodoxe Ikone. Man kann Ikonen sogar in Kaufhäusern unter Einrichtungsgegenständen und Dekor kaufen. Was kann der Grund für diese zunehmende Beliebtheit der Ikonen sein?  - Ihre entrückte Zeitlosigkeit? ihr spiritualisiertes Gleichmaß?  – Übrigens: Die orthodoxe Kirche hat - ähnlich wie später die Reformierten - an dem 2. biblischen Gebot festgehalten, anders als die römische und lutherische Kirche. Daher findet man in orthodoxen Kirchen keine vollplastischen Heiligenbilder. Das flache Tafelbild der Ikone steht nach orthodoxer Auffassung nicht im Widerspruch zum 2. biblischen Gebot, das Bilder verbietet.


Hans Adolf Rosenboom, Pastor i.R.
Karfreitag, Passion, Sühne, Opfer, Versöhnung

Ausgewählte Materialien für den Gottesdienst