Evangelisches Christsein heute - aus reformierter Perspektive

von Peter Bukowski


Vortrag, gehalten in Göttingen, 1. Juni 2017

Evangelisches Christsein heute - aus reformierter Perspektive (2017)
Peter Bukowski (PDF)

1.1.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus reformierter Perspektive ist ein evangelischer Christ, eine evangelische Christin recht bei Trost.

Bei Trost Sein, das ist etwas unendlich wertvolles, denn jeder Mensch bedarf des Trostes, trostlos leben zu müssen - das wäre etwas Furchtbares.

Der große reformierte Prediger Rudolf Bohren hat einmal geschrieben: „Ein Mensch braucht Trost. Der Säugling, schreiend in seiner Wiege – der Greis, im Sterben eine liebe Hand umklammernd: der zur Welt kommt und der aus dem Leben geht, beide brauchen Trost. Anfang und Ende lassen ahnen, dass das Trostbrauchen zum Menschsein überhaupt gehört. An jedem Lebenstag zwischen Geburt und Tod ist Trost vonnöten, ob einem dies bewusst wird oder nicht.“

In diesen Worten klingt noch etwas Wichtiges an: Trost meint mehr als Vertröstung. Trost ist Ermutigung, trösten tut mich das, was mir Halt und Beistand bietet, mir Hilfe, Schutz und Zuversicht gewährt. Der Wikipediaartikel „Trost“ illustriert das mit einem ergreifenden Foto. Es zeigt einen Soldaten und eine Frau in der zerstörten Landschaft, die der Hurrican „Ike“ im September 2008 hinterlassen hat. Der Mann hat die Frau in seinen Armen regelrecht aufgefangen und gibt ihr nun Halt, während sie in ihrer Verzweiflung das Gesicht an seiner Schulter verbirgt – eine Geste, die wir vielleicht aus unseren Kindertagen in Erinnerung haben, wenn uns etwas Schlimmes zugestoßen war und wir uns dann in die Arme der Mutter oder des Vaters flüchteten. (1)

Dass ich als reformierter Referent mit dem Stichwort „Trost“ einsteige, liegt natürlich auch darin begründet, dass unsere wichtigste Bekenntnisschrift den Trost als Leitmotiv über die gesamten Ausführungen zum Inhalt des christlichen Glaubens gestellt hat. Frage 1 des Heidelberger Katechismus (1563), die auch heute noch viele Konfirmand_innen auswendig lernen und die manche Konfirmationsurkunde ziert, lautet (ich zitiere zunächst nur den Anfang):

Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?

Dass ich mit Leib und Seele

im Leben und im Sterben nicht mir,

sondern meinem getreuen Heiland

Jesus Christus gehöre...

Wer allerdings von diesem Trost heute reden will, sieht sich sogleich mit kritischen Rückfragen konfrontiert, die es wahrzunehmen und ernst zu nehmen gilt.

Eine macht sich an dem Wort „einziger“ fest. Das war sogar schon bei mir als Jugendlichem so. Ich erlebte viele unterschiedliche, durchaus wirksame Weisen von Trost. Wenn ich krank war, tröstete mich die Fürsorge der Eltern. Als ich in der 7. Klasse sitzen blieb, half mir am meisten die Tatsache, dass mich die neue Klasse freundlich aufnahm und ich schnell Anschluss fand. Und als meine erste große Liebe mit mir Schluss gemacht hatte, da trösteten mich die Kumpels in meiner Band. Und dann auch die Erfahrung, dass es noch andere Mädchen gab, für die ich bisher nur keinen Blick gehabt hatte...

Als ich begann, über meinen Glauben nachzudenken, wurde mir die Entdeckung wichtig, dass ich Frage 1 offensichtlich nicht bis zum Ende bedacht hatte. Sie fragt ja nicht: Was ist Dein einziger Trost? Sondern: ... dein einziger Trost im Leben und im Sterben?

Eben in meine erste Pfarrstelle eingeführt, schickte mich die Gemeindeschwester zu Herrn Löhr. Ich machte mich reichlich befangen und ängstlich auf den Weg, denn ich war vorgewarnt worden: Es gehe ihm ganz schlecht – Magenkrebs im Endstadium. Wie sollte ich – gesund, jung und unerfahren – ihn trösten. In der Tat erwartete mich ein Bild des Jammers: Da lag ein vom Tode gezeichneter Mann, an viele Schläuche angeschlossen, ernährt wurde er durch die Nase. Über seinem Krankenbett hingen Bilder von der Familie, aber eben auch eine Urkunde vom CVjM in dem er zeitlebens aktiv war und der Konfirmationsspruch mit Frage 1. Nach der Begrüßung und einigen ziemlich ungeschickten Sätzen meinerseits, zeigte er mit seiner ausgemergelten Hand nach oben und sagte: „Herr Pastor, ohne den da oben könnte ich das hier nicht aushalten.“ Am Ende des Besuches fühlte ich mich getröstet, Herr Löhr hatte mir von seinem Trost weitergegeben.

Und ich begriff: von dem Trost redet der Heidelberger Katechismus, der mich nicht nur in den Widerwärtigkeiten des Lebens trägt, sondern der auch dem Tod etwas entgegen zu setzen hat, der auch im Sterben Halt bietet. Es ist der Trost des Auferstandenen, der sagt: Ich lebe und ihr sollt auch leben. Der Trost dessen, der am Ende unserer Lebenszeit mit seiner Ewigkeit auf uns wartet. Und der deshalb Halt gewährt, wenn der Tod mit seinen Vorboten in das Leben eindringt. Das können die anderen Tröstungen eben nicht, sie alle mögen ein Stück weit Halt bieten, aber vor dem letzten Ernstfall versagen sie. Deshalb müssen sie aber gerade nicht abgewertet oder für uneigentlich erklärt werden. Wir sollen uns ihrer als Geschenke des einen Trösters freuen. Es sind Segnungen, die ihre eigene Würde haben. Die allerdings von dem einen Tröster auch heilsam begrenzt werden. Seien es Freundschaften oder Erfahrungen von Glück, Gesundheit oder ein gutes Auskommen, wir werden das alles umso mehr genießen können, wenn uns nichts davon Trost im Leben und im Sterben sein muss. Nur so bewahren wir uns und andere vor heilloser Überforderung und Enttäuschung.

Übrigens wurde mir in der Begegnung mit Herrn Löhr auch deutlich, wie die sehr steilen Aussagen vom Frage 1 über die Bewahrung („dass ohne den Willen meines Vaters kein Haar von meinem Haupt kann fallen“) verstanden werden können. Nicht im mechanistischen Sinne, als sei alles Widerwärtige in meinem Leben von Gott geschickt. Dass es ihm so elend ging, blieb Herrn Löhr ein kaum zu ertragendes Rätsel. Aber doch hielt er sich an die Aussage: nichts von all dem vermag mich aus Gottes Hand zu reißen, der an meiner Seite bleibt und mir Seligkeit verspricht (HK „...ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss.“

Mit kritischen Rückfragen, wenn nicht gar Unverständnis ist heute auch im Blick auf die Aussage zu rechnen, dass ich nicht mir, sondern Jesus Christus gehöre. Ich gehöre nicht mir? – Das klingt wie ein Angriff auf eigene Mündigkeit. Habe ich denn nicht ein Recht auf Selbstverantwortung, auf Autonomie? Und ist es nicht gerade ein erstrebenswertes Ziel, „ein eigener Mensch (zu) werden“ (Elisabeth Moltmann-Wendel)?

Als Seelsorger und Seelsorgelehrer hatte ich mich ausführlich mit dem Phänomen Sucht und Suchttherapie zu beschäftigen. Dies hat mir eine interessante Perspektive auf unsere Frage eröffnet. Das Programm der Anonymen Alkoholiker gilt weltweit als das Erfolg versprechendste Konzept zur Heilung von Sucht (nicht nur Alkohol!). Bei den Treffen der AA-Gruppen werden jeweils - meist zu Beginn - die 12-Sritte verlesen, die den Weg aus der Sucht markieren und so etwas wie das Grundgerüst dieser Bewegung bieten. Die ersten alles entscheidenden Schritte lauten:

1. Schritt
Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind - und unser Leben nicht mehr meistern konnten.
2. Schritt
Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.
3. Schritt
Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes - wie wir Ihn verstanden - anzuvertrauen.

Der Bezug auf das, was größer ist als ich, ist hier bewusst vage formuliert, denn es sollen nicht nur Christenmenschen einstimmen können. Andererseits kann ein Christ unschwer die allgemeine Aussage mit dem eigenen Glaubensinhalt füllen.

Was hier eindrücklich klar wird und sich mir in meiner eigenen Beratungspraxis immer wieder bestätigt hat: Ich komme gerade nicht dann zu mir, wenn ich nur mir gehöre und damit letztendlich auf mich allein gestellt bliebe. Ich finde gerade dann zu mir, wenn ich mich an den halten kann, der es gut mit mir meint und der, wenn ich es gar nicht gut mit mir meine, in mir für mich eintritt - als heilsame Stimme gegen all die bösen Einflüsterungen, die mich klein und krank machen. Als innere Kraftquelle gegen das, was mich niederdrückt.

„Ich gehöre“ – das will also verstanden sein, wie Liebende sich versprechen, einander zu gehören. Will meinen: Es hat sich der mit mir verbunden, der mir treu ist, auch und gerade dann, wenn ich mir untreu werde. Es hat sich der mit mir verbunden, der mein Heil und meine Heilung will, auch und gerade dann, wenn es in mir zerrissen und heillos aussieht. Sich, gefangen in süchtigen Verstrickungen, an den zu halten, der größer ist als man selbst, stärker als alles, was einen bindet, führt aus der Abhängigkeit in die Freiheit. Paulus würde sagen: In die herrliche Freiheit der Kinder Gottes.

1.2.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen (ersten) Wechsel der Ebenen: Um dem „heute“ im mir gestellten Thema gerecht zu werden, habe ich versucht eine wichtige Facette reformierter Glaubensprägung im Blick auf gegenwärtige Rückfragen zu elementarisieren bzw. zu plausibilisieren. Ob mir dies gelungen ist, sei dahingestellt. Was ich aber unbedingt unterstreichen möchte, ist die Aufgabe als solche. Denn wesentliche Inhalte, ich könnte auch sagen: Bestände des christlichen Glaubens drohen heute in Vergessenheit zu geraten oder sich zu verflüchtigen. Ein damit zusammenhängendes äußeres Phänomen ist die zunehmende Konfessionslosigkeit. Sie ist bedrückend genug: Seit 1990 hat sich die Zahl der Konfessionslosen verzehnfacht. Sie umfasst in Ostdeutschland 2/3 der Bevölkerung in Westdeutschland ca. 1/3 bei steigender Tendenz. In manchen europäischen Nachbarländern sind die Zahlen weitaus dramatischer. Religionssoziologen haben uns gelehrt, bei den Konfessionslosen zwischen Atheisten, Agnostikern, frei flottierenden Religiösen und religiös Indifferenten zu unterscheiden. Was nun die gegenwärtige Lage dramatisch erscheinen lässt, ist der Tatbestand, dass sich alle hier genannten Schattierungen auch unter denen finden lassen, die noch zur Kirche gehören, vor allem natürlich die "frei flottierenden", also solche, die sich aus den verschiedenen religiösen Angeboten ihren Privatglauben zusammengestellt haben. Somit droht dem Protestantismus eine Abkoppelung vom eigenen prägenden Traditionsstrom und eine zunehmende Banalisierung und innere Erosion.

Klar ist: Sich diesem Trend zu stellen kann nicht bedeuten die gute alte und altbewährte Wahrheit immer noch einmal laut und deutlich zu wiederholen, nach dem Motto „Bastion halten – irgendwann werden es die Leute schon kapieren – oder wir schrumpfen uns halt gesund“. Das verbietet sich nicht nur aus strategischen Gründen, sondern aus einem inneren Sachgrund: Gottes Wort ist lebendiges und deshalb je heute auszulegendes Wort und keine zeitlose Wahrheit. Als ebenso verfehlt hat sich in der Vergangenheit - als Gegenschlag - der Versuch erwiesen, den Traditionsabbruch durch kirchliche Traditionsverschwiegenheit abfedern zu wollen, nach dem Motto: „Wir wollen doch die Leute nicht gleich mit der Bibel erschlagen“. Das hat, statt abzufedern den Trend nur noch verstärkt und zu einer Selbstsäkularisierung (W. Huber) der Kirche beigetragen. Die Aufgabe lautet stattdessen, in Predigt, Unterricht und Bildungshandeln auf je angemessene Weise bezogene Theologie zu treiben. Also Glaube und Leben heute so in Beziehung zu bringen, dass die Leben erschließende Kraft des Evangeliums aufleuchtet und Christenmenschen auskunftsfähig werden. Man mag über die Reformationsdekade und das diesjährige Jubiläum manch Kritisches zu sagen haben, aber es darf m.E. nicht kleingeredet werden, dass es im Blick auf Konzentration, Neubesinnung und Plausibilisierung des christlichen Glaubens wichtige und ich glaube auch nachhaltige Impulse gesetzt hat.

Die eben skizzierte Aufgabe wird jenseits konfessioneller Differenzierungen von allen Kirchen gesehen und in Angriff genommen. Aber eine reformierte Nuance sei doch eigens notiert: In Frage 103 des HK, die das Sabbatgebot thematisiert, lesen wir als fundamentale Charakterisierung christlichen Gottesdienstes: „Gott will... dass ich, besonders am Feiertag, zu der Gemeinde Gottes fleißig komme. Dort soll ich: Gottes Wort lernen...“ Ich soll im Gottesdienst auch noch einiges andere: Die Sakramente gebrauchen, beten, mit Bedürftigen teilen – aber ich soll zunächst und als erstes eben dies: Gottes Wort lernen.

Den Gebildeten unter den Verächtern der reformierten Konfession, zumal reformierter Liturgik wurde seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts gerade diese Bestimmung zum gefundenen Fressen: Was uns bei Euch schon immer abstieß, hier also nehmt Ihr sie her: Die Begründung für Eure drögen Gottesdienste; wortlastig sind sie und verkopft. Nun will ich nicht bestreiten, dass man am real-existierenden reformierten Gottesdienst auch (einmal) leiden kann. Manchmal wird es den Kritikern in der Tat allzu leicht gemacht. Aber das hat dann weniger mit der Anzahl der Worte zu tun und auch nicht damit, dass es bei uns etwas zu lernen gibt. Sondern viel mehr mit der Abständigkeit, mit der Lebensferne der vorgetragenen Gedanken – aber abständig vorgetragener Wissensbestand ist das genaue Gegenteil dessen, was der Heidelberger mit Lernen des Wortes Gottes im Blick hat. Hingegen bleibt als bemerkenswert festzuhalten: Das reformierte Insistieren auf der Notwendigkeit, Gottes Wort zu lernen ist urjüdisch. Ja, es verbindet uns mit unseren jüdischen Geschwistern, für die das Lernen der Tora zentrale Glaubens- und Lebensäußerung ist. Weil der Gott Israels ein Redender ist, haben die Kinder Israels zu hören und zu lernen. Vom Kindergarten an bis ins hohe Alter. Gerade auch im Alter. Denn es heißt: Wer die Tora lernt, dem kann der Todesengel nichts anhaben. Zur Bedeutung des Lernens und damit je aktueller Aneignung des Wortes Gottes tritt für Reformierte die Wertschätzung der Bibel beider Testamente, gerade auch der hebräischen Bibel als dem Wahrheitsraum (Crüsemann) des Neuen Testaments. Sie wurde und wird in reformierten Gemeinden weit über den Bestand alttestamentlicher Texte in der gegenwärtig noch geltenden Perikopenordnung hinaus Predigten zu Grunde gelegt (die Neue Ordnung wird erfreulich reichhaltiger sein!), und nicht zuletzt um die ganze Schrift zum Klingen und Hören zu bringen, erfreut sich die Reihenpredigt (also die fortlaufende Auslegung ganzer Biblischer Bücher) besonderer reformierter Hochachtung. Nimmt man noch das Kernstück reformierten Kirchenliedes hinzu, den alle 150 Psalmen umfassenden Reimpsalter, dann ist das ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Förderung christlicher Erinnerungs- und Sprachhilfe!

2.1.

Von dieser Metaebene nun noch einmal zurück zu Frage 1 des HK. Eine Frage, die mir als 68er zusammen mit vielen anderen besonders drängend war und die heute brennend wichtig ist, lautet: Setzt die Frage 1, die nach „meinem“ Trost fragt nicht allzu individualistisch an. Bleibt´s hier im besten Falle nicht im privat-seelsorgerlichen Klein-Klein?

Eine machtvolle Gegenerfahrung war für mich die Abschlusskundgebung der Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Debrecen 1997. Vorausgegangen und theologisch wegweisend war das von der farbigen reformierten südafrikanischen Kirche in Südafrika 1986 verabschiedete Belhar-Bekenntnis. Es erklärte Ablehnung und Überwindung der Apartheid zur Bekenntnisfrage. Jetzt in Debrecen verpflichteten wir uns in unmissverständlicher Weise auf unser Eintreten für politische, wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit weltweit. Debrecen war ein Meilenstein auf dem Weg, der 2004 zum Bekenntnis von Accra geführt hat, welches seitdem der reformierten Weltgemeinschaft zur geistlichen Orientierung dient. Jeder Abschnitt der Kundgebung wurde mit einem Satz eingeleitet, den die ganze Weltgemeinschaft mitsprach: We are not our own – wir gehören nicht uns selbst. Da ist er wieder, jener Satz, den wir eben schon einmal bedachten, nun aber in einer anderen Zuspitzung: Das wir nicht uns, sondern Christus gehören, hat in Frage 1 ja die bisher noch nicht bedachte Pointe: Wir gehören dem, der uns in seiner Lebenshingabe aus „aller Gewalt des Teufels erlöst“. Weil wir mit ihm im Bunde sind, brauchen wir vor den Mächten der Gewalt und der Gier, der Ausbeutung und der Zerstörung und was es sonst an Teufeleien gibt, nicht die Waffen zu strecken. Die Welt ist veränderbar – so wahr der Tod am Ostermorgen das Nachsehen hatte.

Noch einmal zurück zu einem Gemeindebesuch bei einer sehr alten Dame. Auch bei ihr hängt der Konfirmationsspruch mit Frage 1. Ihr Name: Ida Schade. Fräulein (darauf legte sie Wert!) Schade war als junge Frau die erste Sekretärin der von der Bekennenden Kirche gegründeten Kirchlichen Hochschule zu Wuppertal. Diese wurde gleich am Tag nach ihrer Gründung von den Nazis verboten. Die Vorlesungen fanden geheim in Wohnzimmern von Presbytern statt. Fräulein Schades Aufgabe war es unter anderen: Akten zu verstecken und den Studierenden heimlich die ständig wechselnden Treffpunkte mitzuteilen – alles höchst gefährliche Aktionen. Ständig war ihr die Gestapo im Nacken. Einmal wäre sie fast aufgeflogen: Sie hat die Liste mit den Treffpunkten der kommenden Woche in ihrer Handtasche und sieht einen bekannten Gestapomann ihr entgegenkommen. Rasch öffnet sie die Handtasche, tut als müsse sie sich die Nase putzen, zieht aber mit dem Taschentuch den gefährlichen Zettel mit heraus, steckt ihn zusammengeknüllt in den Mund, kaut und schluckt ihn hinunter. „Das hat schrecklich geschmeckt“, bemerkt sie trocken. „Aber hatten Sie denn keine Angst?“ frage ich zurück. Und Sie: „Ja, schon, aber der liebe Gott war doch stärker als die.“

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wo immer auf der Welt Christenmenschen dem Unrecht etwas entgegensetzen, als mutiges Zeugnis, als solidarische Tat, als Eintreten für andere, da leben sie aus dieser Hoffnung: Man kann etwas machen, denn unser Herr ist stärker als die Herren und Mächte dieser Welt („Königsherrschaft Christi“). Denen gehören wir nicht, weil deren Macht – und mögen sie es auch nicht glauben – begrenzt ist. Der, zu dem wir gehören, traut uns zu ihnen etwas entgegen zu setzen. Darum verfallen wir angesichts heutiger Schrecklichkeiten und Ungerechtigkeiten nicht in Resignation („Man kann ja eh nichts machen“), suchen aber erst recht nicht trügerische Sicherheit in Abschottung und Ausgrenzung anderer. Und wir erlauben uns selber zu denken anstatt der trügerischen Göttin TINA (= there is no alternative) Tribut zu zollen. Populistischen Vereinfachungen sind wir abhold und fake news entlarven wir als das, was sie sind: Erstunken und erlogen.

In der Sprache des HK Frage 1: Er macht uns „willig und bereit, ihm forthin zu leben“.  Zu diesem Schlusssatz hat bei unserer Feier zum Heidelbergerjubiläum (2013) der (reformierte!) Festredner Gerd Theißen ein eindrucksvolles Bild gezeichnet:  Bei Lutheranern gehören die 10 Gebote in der Diele aufgehangen: als Spiegel unserer Verfehlungen, in den wir blicken müssen, bevor wir näher hinzutreten dürfen. Bei Reformierten hängen sie in der Guten Stube: Wie ein Meisterbrief, der festhält, wozu wir befähigt sind.

2.2.

Und nun noch einmal auf die Metaebene: Auch der letzten Passage lassen sich wichtige Merkmale reformierten Christseins entnehmen.

Ich sprach die Bekenntnisse von Belhar und Accra an. Merke (ohne dass dies hier gründlich erörtert werden kann): Für das Kirche-Sein haben aus reformierten Sicht die reformatorischen Bekenntnisse nicht den konstitutiven Stellenwert wie für Lutheraner (viele schweizerische ref. Kirchen haben gar keine verbindliche Bekenntnisgrundlage), umso wichtiger ist Reformierten das aktuelle Bekennen ihres Glaubens, bezogen auf die Herausforderungen der Gegenwart.

Weiterhin (vgl. das Zitat von Theißen): Der unlösbare Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung. Beide haben ihren Ursprung im Erlösungswerk Christi: Er befreit von der Sünde und er macht „willig und bereit, ihm forthin zu leben“. Deshalb ist christliches Leben gelebte Dankbarkeit (so der 3. Teil des HK). Zum Leben in Dankbarkeit gehört, das zeigten die Beispiele, nach der Geltung der Gebote Gottes auch im öffentlichen Leben, auch in politicis zu fragen. Nicht im Gestus des christlichen Besserwissers und – Gott bewahre! – erst recht nicht als christlicher Gotteskrieger. Wohl aber als Suche nach weltlichen/menschlichen Entsprechungen zur Güte Gottes, die uns in seiner Bundesgeschichte aufscheint.

Der „natürliche“ Ort für diese Suche ist die Gemeinschaft der versammelten Gemeinde. Zwingli hat einmal gesagt: „Es braucht mehrere um intelligent zu sein.“ Reformierte nehmen das sehr ernst: Die Kirche baut sich von der Gemeinde her auf. Kirche ist Gemeinschaft von Gemeinden – im modernen Jargon: eine bottom up Bewegung. Die Gemeinde wird von einem Presbyterium geleitet, in dem die Pfarrer_innen je eine Stimme haben wie jeder Laie. Das Gleiche gilt für die Leitung der Gemeinschaft der Gemeinden, Synode genannt. Die presbyterial-synodale Ordnung ist das bis heute gültige Leitungsprinzip (inzwischen nicht nicht nur reformierter) evangelischer Kirchen. Aber auch die Leitung vor Ort ist bei Reformierten in besonderer Weise geordnet. Sie kennen das 4fache Amt von Pfarrer, Theologe, Presbyter und Diakon (später das 3fache, weil Pfarrer und Theologe als ein Amt zusammengenommen wurden). Dabei verstehen sie diese Ämter als Wiederhall und Entsprechung zum 3fachen Amt Christi. Und das mit bedenkenswerten Akzenten: Entspricht doch dem prophetischen Amt Christi das Predigtamt, seinem königlichen das Presbyteramt (der Pfarr-Herr soll nicht der king sein) und seinem priesterlichen – man höre und staune – das diakonische Amt. Ich überspitze: Wenn schon Heilsmittlerschaft, dann nicht als pfäffisch verwaltete Heilsausteilung, sondern als Not-wendende, diakonische Liebestat.

Die Souveränität des In Christus offenbaren Gottes, die in den Betrachtungen zu Frage 1 an unterschiedlichen Stellen wichtig wurde, soll am Ende noch einmal auf einen spezifisch reformierten Punkt gebracht werden.

Johannes Calvin hat unter sein Hauptwerk, die „Institutio“ (Unterricht in der christlichen Religion) die zwei Worte gesetzt: Laus Deo, Ehre sei Gott. Sie besagen dasselbe, wie das „soli Deo gloria“ (Gott allein die Ehre), das die Reformierten bisweilen den lutherischen Exklusivpartikeln (solus christus, solo verbo, sola gratia, sola fide) ergänzend an die Seite gestellt haben. Gott allein die Ehre, das soll unterstreichen, „dass nicht etwa der Mensch im Zentrum des christlichen Denkens steht und Gott nur der Zulieferer für seine Bedürfnisse ist. Der Mensch bekommt ihn nie in seine Hand, sondern bleibt ständig darauf angewiesen, dass Gott sich ihm gibt.“ (So Eberhard Busch in einem Vortrag).

Gott allein die Ehre - damit wird vor allem an der fundamentalen Differenz zwischen dem Grund christlicher Existenz und der Gestalt gelebter Religion in all ihren Erscheinungsformen festgehalten. Anders gesagt: Zwar verdankt sich die Kirche ihrem in Christus gelegten Grund und sie soll ihm soweit das menschenmöglich ist entsprechen, aber doch geht der Grund nie in ihren Besitz über. Die Kirche darf sich nie mit dem, der sie gründet in eins setzen. Es wäre ebenso spannend wie aufschlussreich, die sich aus dieser Fundamentaldifferenz ergebenden Konsequenzen auf einzelnen Feldern durchzuspielen. Da dazu aber die Zeit nicht reicht, seien abschließend nur eben drei Stichworte genannt:

1. Ökumene. Weil der Grund der Kirche einer ist, hat Calvin in besonderer Weise unter der Zerrissenheit der Kirche seiner Zeit gelitten. An den Bischof von Canterbury schreibt er: „Zerfetzt, mit zerstreuten Gliedmaßen liegt der Leib der Kirche am Boden. Was mich betrifft, so würde ich gern zehn Meere durchkreuzen, um diesem Elend abzuhelfen.“ Und so bemüht sich Johannes Calvin wie kein zweiter Reformator um die Einheit der Kirche Jesu Christi. Und es ließen sich auch für die Folgezeit zahlreiche Beispiele dafür geben, dass Bemühungen um die Einheit der Kirche oft gerade von den Reformierten ausgingen. Nicht zuletzt innerprotestantische Unionen. Man könnte auch sagen: Die Reformierten waren konfessionell eher schwach - aber nicht aus Verlegenheit, sondern weil sie um die prinzipielle Begrenztheit und und Fehlbarkeit auch der eigenen Gestalt von Kirche-Sein wussten.

2. Begegnung mit anderen Religionen. Ein Kollege von der Vereinten Evangelischen Mission, mit dem zusammen ich im Predigerseminar das Fach Ökumene unterrichte, brachte ein T-Shirt mit, das er sich in Indien gekauft hatte; es trug die Aufschrift: „God is too big to fit into one religion“. Stimmt der Satz? Die Mehrzahl der Vikare fand: Nein, immerhin glaubten wir doch daran, dass Gott sich uns vollgültig geoffenbart habe und außerdem ´rieche´ der Satz doch nur so nach einem pluralistischen, letztendlich auf Indifferenz hinauslaufenden Religionsverständnis. So weit, so richtig. Andererseits wird man feststellen müssen, dass der Satz gerade in protestantischem, zumal reformiertem Verständnis genau das Wahrheitsmoment enthält, von dem hier die Rede ist: Die notwendige Unterscheidung zwischen dem biblisch bezeugten Gott und aller menschlichen, auch der christlichen Gottesverehrung. Das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem Einen Wort Gottes (Barmen I) nötigt die Kirche zu heilsamer Selbstrelativierung: Christus ist (wenn man den Begriff einmal aufnimmt:) „absolut“ – nicht aber das Christentum. Dies sollte in der Begegnung mit den Anderen zu einer Grundhaltung verhelfen, die, ohne das Eigene zu verleugnen, von Demut geprägt ist und von wacher Neugier: Ich will den Anders-Glaubenden kennen lernen, mit ihm in lebendigen Kontakt treten, nicht auf meine Seite ziehen.

3. Zuletzt und an das Stichwort der Selbstrelativierung anknüpfend nenne ich den Humor. Wer Gott allein die Ehre gibt, wird sich selbst ernst aber nie zu ernst nehmen. In seinem letzten Brief, geschrieben drei Wochen vor seinem Tode und adressiert an eine Vereinigung asiatischer Theologen, antwortet Karl Barth auf die Frage, was das Wesentliche seiner Theologie sei. Er nennt nur zwei Punkte. Dar erste lautet „Sachlichkeit“, womit schlicht der stete Rückbezug auf den biblisch bezeugten Gott gemeint ist. Der zweite: „Der Christ treibt dann gute Theologie, wenn er ... mit Humor bei der Sache ist. Nur keine verdrießlichen Theologen nur keine langweilige Theologie! Ich weiß wirklich auch: es umgibt uns von allen Seiten viel, viel Trauriges – und wir selbst sind ja immer wieder ganz unerfreuliche Gesellen. Aber indem ein guter Theologe wiederum nicht sich selbst dient, sondern Ihm, dem Vater Jesu Christi, darf er vergnügt und hoffnungsvoll auf seine auf alle Fälle von Gott geliebten Mitmenschen und sogar auf sich selbst blicken, darf er (je mehr er nur seine Sache ernst nimmt!) trotz allem von Herzen lachen und sogar über sich selbst lachen.“ (2)

Einmal spaziert der bedeutende reformierte Theologe und Prediger Hermann Friedrich Kohlbrügge mit einem Besucher über den Friedhof seiner Gemeinde in Wuppertal. Bis heute ein wunderschöner Friedhof: alle Gräber sind gleich gestaltet und auf jedem steht ein Rosenstock. Irgendwann fragt ihn sein Gesprächspartner nach dem Zustand seiner reformierten Gemeinde. Kohlbrügge bricht eine Rosenblüte, hält sie gegen das Licht und antwortet: „Sehen Sie selbst. Voller Läuse, aber sie blüht.“

(1) Den Hinweis auf diesen Artikel entnehme ich einer schönen Predigt zu Frage 1 von Michael Beintger (Münster).

(2) K. Barth, Offene Briefe 1945 – 1968, hg. von D. Koch, (Karl Barth Gesamtausgabe, V. Briefe), Zürich 1984, 554.

 

Reformierter Bund gratuliert dem früheren Moderator

Peter Bukowski, ehemaliger Moderator des Reformierten Bundes, wir am 9. Juni 70 Jahre alt. Der Reformierte Bund sendet Glückwünsche an einen Theologen, der den reformierten Diskurs mit viel Engagement vorangetrieben und mitgeprägt hat.