Gesundheit ist kein zweiter Gott

Über Liebe, Schalom und worauf es beim Gottesdienstfeiern ankommt


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Gedanken zum Weiterdenken von Ilka Werner

Hauptsache gesund – so hört man jetzt oft, und, auch von Kirchenleuten, Gesundheitsschutz sei in Corona-Zeiten das A und O.

Ich möchte dem widersprechen. Nicht, weil ich Gesundheitsschutz für unwichtig halte. Son-dern weil ich als Christin und Theologin etwas anderes für noch wichtiger halte: die Liebe. In Jesu Abschiedsreden heißt es (Johannes 13, 34f BigS): „Ich gebe euch ein neues Gebot, dass ihr euch gegenseitig liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr euch gegenseitig liebt. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jüngerinnen und Jünger seid, wenn ihr Liebe un-tereinander habt.“

An der Liebe also sollen Christenmenschen erkannt werden. Nicht am Gesundheitsschutz.

Was heißt das? Das heißt, dass Gesundheitsschutz wichtig, aber der Liebe nachgeordnet ist. Praktisch bedeutet das, dass ein Gesundheitsschutz, der Menschen in Altersheimen quasi in Isolationshaft zwingt, der Liebe widerspricht und deshalb hinterfragt und verändert werden muss. Praktisch bedeutet das, dass ein Gesundheitsschutz, der dazu führt, dass todkranke Menschen allein sterben, der Liebe widerspricht und deshalb hinterfragt und verändert werden muss. Praktisch bedeutet das, dass Präsenzgottesdienstfeiern, die aus Gesundheitsschutzgründen ohne Gesang und in ganz kleinen Gruppen stattfinden und ohne die, die sich wegen ihres erhöhten Ansteckungsrisikos nicht in die Kirche trauen, vielleicht der Liebe widersprechen und deshalb hinterfragt gehören: Vielleicht müssen wir gemeinsam noch abwarten, bis wir wieder gemeinsam feiern.

Die Liebe in der Gemeinde wird konkret, wo einer des anderen Last trägt, wo die Starken um der Schwachen willen verzichten, wo die Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten sein werden, wo wir wie Jesus fragen: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“

Diese Liebe ist in der Bibel eng mit dem Schalom verwandt, was wir mit Frieden übersetzen, was aber auch Glück, Heil, Wohlergehen und vieles mehr bedeutet. Gottes Schalom beschreibt wie die Liebe auch den Gesundheitsschutz, aber eben mehr als das, er sieht ihn zusammen mit Gemeinschaft und Gerechtigkeit und bekommt so ein umfassenderes Bild von allem. Schalom bezieht in der Bibel die Alten, die Witwen und Waisen, die Fremden, Mägde und Knechte und das Vieh mit ein. Schalom fragt darum heute auch nach den Perspektiven der Soloselbstständigen und der Flüchtlinge in den Camps auf den griechischen Inseln. Schalom fragt nach den weltweiten Auswirkungen dessen, was geschieht, und wie es sein kann, dass ein Pfarrer in Tansania sein unverzichtbares Medikament nicht mehr bekommt, weil die Bestände für Corona-Forschungen von den USA aufgekauft werden. Schalom fragt nach den wirtschaftlichen Wechselwirkungen, aber anders als viele, nämlich so, dass ein gutes Leben für alle in den Blick kommt. Schalom sieht die Zusammenhänge.

Schalom und die Liebe erinnern daran, dass die Gesundheit kein zweiter Gott ist. Das Gebot der Nächstenliebe gehört biblisch mit dem der Gottesliebe untrennbar zusammen: Du sollst Gott lieben – und nicht einem Götzen anhangen.

Und du sollst deinen Nächsten lieben, denn er ist wie du. Der Nächste, die Nächste ist uns gleich, ein Mensch, der oder die auch in Corona-Zeiten Wünsche und einen Willen hat, frei ist und gefragt werden will. Fragen wir uns selbst: Was brauchen wir jetzt? Dass wir geliebt werden – oder geschützt um jeden Preis? Ich ziehe die Liebe vor.

An der Liebe werden Christenmenschen erkannt. An nichts sonst.

Was heißt das nun für unsere Gottesdienste? Es geht um die Liebe, nicht ums Prinzip!
Wir wollen bald wieder gemeinsam in der Kirche feiern.
Wir wissen und akzeptieren, dass das nur unter Auflagen geht.
Wir planen für jede einzelne Kirche, wie wir die Auflagen umsetzen können.

Wir wollen bald wieder gemeinsam in der Kirche feiern.
Wir wollen auch, dass niemand aus dieser Gemeinschaft grundsätzlich ausgeschlossen ist.
Wir warten im Zweifel lieber ein bisschen länger, als dass wir Gemeindegliedern weh tun.

Wir wollen bald wieder gemeinsam in der Kirche feiern.
Wir haben aber auch die Erfahrung gemacht, dass unsere digitalen und analogen Angebote uns zusammengehalten und die Liebe unter uns bewahrt haben.
Wir können uns einen behutsamen Start in Präsenzgottesdienste vorstellen: Ein paar Gemeindeglieder, die bei der Aufzeichnung des Video-Gottesdienstes mitfeiern; eine kurze Andacht draußen vor der offenen Kirchentür mit Abstand und Frischluft; eine Gemeindegruppe, die sich zur Abendandacht in einem Garten trifft…

Wir wollen bald wieder gemeinsam in der Kirche feiern.
Aber wir können darauf warten, bis wir wieder gemeinsam feiern können. Da unterscheiden wir uns von der katholischen Kirche. Für die ist die Messe an sich wichtig. Das verstehen und akzeptieren wir.
Wir hätten uns als evangelische Kirche aber gewünscht, dass die Bischöfe in NRW nicht im Alleingang auf die Politik zugegangen wären, sondern die ACK-Ökumene vorher informiert hätten. Ein ökumenischer Scherbenhaufen hätte so verhindert werden können.

Wir wollen bald wieder gemeinsam in der Kirche feiern.
Es geht uns aber nicht in erster Linie darum. Es geht uns um die Liebe. Und die macht an den Kirchentüren, ob geschlossen oder offen, nicht halt, sondern fragt nach allen Menschen.
Darum möchten wir uns nicht bloß mit uns selbst beschäftigen. Wir möchten lieber die Welt freundlich und liebevoll ins Gebet nehmen.


Ilka Werner