Gottes heiligendes Handeln in uns: Abbau und Kreuztragen - in Freude?

Von Gerard C. den Hertog, Apeldoorn

© Andreas Olbrich

Vorlesung, gehalten auf der Reformierten Sommeruniveristät 2008 in Apeldoorn.

Mitte März jedes Jahres wird in den Niederlanden immer die sogenannte Bücherwoche veranstaltet. Wer während dieser Woche ein Buch kauft, bekommt ein Geschenkbuch dazu, das eigens dazu im Auftrag geschrieben wird. Fürs erste Jahr des neuen Millenniums hatte man den Niederländisch-österreichischen Autor Harry Mulisch dafür geworben, dieses Geschenkbuch zu schreiben. Ihm wurde also die Möglichkeit geboten, den Ton fürs neue Jahrtausend zu setzen. Wie bei einem Musikstück ist der Anfang eines Buches, der erste Satz gleich bestimmend fürs Ganze. Wie macht Mulisch das? Nun, das Buch eröffnet mit folgendem, von mir übersetzten Satz:

„Die Aula des Krematoriums in Amsterdam ist ausgestattet in einem kahlem Backstein, gleich kahl und grau wie die Luft oberhalb der Stadt und die calvinistische Seele.“[1]

Nun, das ist ja Klartext. Oder besser, was heißt Klartext? Hier wird nicht so sehr etwas behauptet, sondern es werden vielmehr Bilder aufgerufen, mit all ihrer suggestiven Kraft. Sie machen einen solchen Eröffnungssatz aber nur umso wirksamer. Kahl sei die calvinistische Seele, also ohne all das, was das Leben interessant, reizend, spannend und was auch immer macht. Grau ist sie auch: keine fröhliche Farben zeigt die calvinistische Seele, es heißt nicht, der Erde treu zu bleiben und das Leben zu genießen. Nein, die calvinistische Spiritualität lässt sich angeblich am besten vergleichen mit einer phantasielosen und traurigen Aula eines Krematoriums. Hatte Mulisch da etwa noch das Wort von Nietzsche in Gedanken, laut dessen die Kirchen – die Aula eines Krematoriums dient auch wohl für Gottesdienste – Grabmäler Gottes sind?

Das einzig positive, was man heutzutage vom Genfer Reformator zu sagen weiß, ist, dass er unser Arbeitsethos entscheidend geprägt hat, was – wie Dieter Schellong spottend bemerkt hat – so ungefähr alle Menschen als sicheres Befund bei Calvin wissen, mit der Ausnahme der ganz wenigen, die ihn gelesen haben.[2] Aber – man ist sich darin wohl einig, dass man bei Calvin nicht leben lernen kann, d.h. mit sorgloser Freude das Leben genießen und erleben. Der Calvinwein von Selderhuis ist ein schöner Versuch, dieses ungesunde Volksempfinden zu korrigieren, aber wohl zum Scheitern verurteilt. Wein ist okay, aber mit dem Namen Calvin drauf schmeckt es einfach nicht.

Würden Sie meinen, das Vorurteil der Trostlosigkeit des Calvinismus beschränke sich auf die Niederlande, so kann ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Vor etwa fünfzehn Jahren promovierte mein jüngster Bruder als Theologe an der Gießener Universität und abends hatte er Familie, Freunde und Kollegen eingeladen für ein festliches Essen. Wir als Familie und Freunde aus den Niederlanden hatten einiges Launiges vorbereitet. Es wurde unbändig gelacht. Am nächsten Tag sagte ein römisch-katholischer Kollege zu meinem Bruder: „Ich hatte immer gedacht, du wärst reformiert.“ Als mein Bruder antwortete, das stimme, er sei tatsächlich reformiert, staunte der Kollege: „Ich wusste nicht, dass Calvinisten soviel Spaß machen könnten!“

Freude

Dass in der Theologie Calvins die Körperlichkeit betont wird ist keine geläufige Sicht. Viel öfter hört man die Meinung, bei ihm sei das Christentum noch einmal Platonismus fürs Volk gewesen. Dagegen spricht aber Einiges. Calvin kann ja sagen, Gott habe diese Welt nicht von ungefähr so schön gemacht. Und Er hat auch nicht umsonst uns die Augen gegeben, um die Welt zu sehen und uns mit Geschmackspapillen versehen um die erschaffene Welt genießen zu können.[3] Die ganze Ordnung der Welt ist so geschaffen, dass sie dem Glück der Menschen dient. Van Eck weist darauf hin, dass Calvin in seiner Auslegung von Psalm 104 sogar bemerkt, das Feststehen der Welt sei gegründet in Gottes Freude.[4] Positiver kann man schwer von der Schöpfung sprechen. Und: In der zukünftigen Welt wird der Genuss der Sinne wieder ungestört stattfinden.[5]

Entgegen den Erwartungen vielleicht finden wir bei Calvin auch eine positive Sicht von Ehe und Sexualität. De Knijff behauptet in seinem großen Buch über das Verhältnis zwischen der erotischen Kultur Europas und einer christlichen sexuellen  Ethik, bei Calvin werde die Ehe zum ersten Mal in der ganzen christlichen Theologie ganz und voll zu einer guten Gabe Gottes, einschließlich des sexuellen Genusses.[6] Als erster in der Geistesgeschichte Europas habe Calvin das Verhältnis von Mann und Frau beschrieben und verteidigt als eine ebenbürtige sexuelle Einheit, die die ganze Existenz, nach Leib und Seele, umfasst.[7]

Woher also das herrschende Calvin-Bild als ein Asket, bei dem alles Genießen ein Ende hat und haben soll?

Der Körper als Kerker

Calvin kann aber auch ganz andere Töne abgeben. So ist bei ihm die Rede von Verachtung des Lebens, vom Körper als Kerker. Da ist aber nicht die Rede von einer inneren Zwiespalt mit seiner positiven Sicht der geschaffenen Welt, die er etwa selber nicht gespürt hat oder jedenfalls nicht ausgeglichen. Nein, dass unser Körper ein Kerker ist, ist wegen der Sünde. Durch die Sünde haben wir uns eingesperrt in dieses kummervolle Dasein.

Es ist nämlich gerade dies der Unterschied zwischen Mensch und Tier, dass das Tier nicht auf Unsterblichkeit hofft.[8] Der Mensch aber ist nicht daraufhin geschaffen, sich dem direkten und ungebrochenen Genuss der Erde zu übergeben. Er/Sie ist bestimmt für ein höheres Bürgerrecht.

Wollen wir einen Eindruck haben, was da im Hintergrund steht, so reichen dazu die Eröffnungssätze des Genfer Katechismus und Glaubensbekenntnis von 1537:

„Da man nirgends einen Menschen, sei er auch noch so ungesittet und wild, ohne irgend ein Wissen um Religion antrifft, ist es klar, dass wir alle auf dieses Ziel hin erschaffen wurden, die Herrlichkeit unseres Schöpfer zu erkennen und aufgrund dieser Erkenntnis ihn über alles zu achten und in aller Furcht, Liebe und Ehrerbietung zu verehren.

Aber lassen wir die Ungläubigen beiseite, die nur danach trachten, das Wissen um Gott, das in ihre Herzen gepflanzt ist, aus dem Gedächtnis zu tilgen: Wir, die wir den Glauben bekennen, müssen daran denken, dass dieses hinfällige und bald beendete Leben nichts anderes sein darf als ein Trachten nach der Unsterblichkeit. Nun kann man aber nirgendwo sonst als allein in Gott das ewige und unsterbliche Leben finden. Deshalb muss es die wichtigste Sorge und Bemühung unseres Lebens sein, Gott zu suchen, mit der ganzen Zuneigung unseres Herzens, zu ihm zu streben und nirgends Ruhe zu finden als allein in ihm.“[9]

Es ist klar, dass hier eine Kluft klafft zwischen dem Genfer Reformator und uns heutigen Menschen, für die ja das ewige Leben im höchsten Maße fragwürdig geworden ist und für die meisten auch belanglos, obzwar - woher schon das Interesse für ,channelen‘ und derartiges?! Das sollen wir aber hier nicht durchdiskutieren, sondern im Hinterkopf behalten bei unserer Calvin-Lektüre. Würden wir es vergessen, so könnten wir aber Calvin eigentlich nur noch gründlichst missverstehen.

Also - wenn Calvin darauf besteht, der Mensch solle dieses Leben ,verachten‘, so geht das nicht – oder jedenfalls nicht nur - hervor aus einer Überbetonung der Sündigkeit, sondern hängt zusammen mit seiner Sicht des Ziels der Schöpfung.

Die Rede über das Ziel der Schöpfung abstrahiert Calvin aber nicht von unserer heutigen Lage, in der die Sünde uns nicht nur des ewigen Lebens beraubt hat, sondern uns auch blind und stumpf gemacht hat. Wir erkennen unser Elend nicht einmal. Darum sind wir geneigt, uns wie die Tiere dem Genuss der Dinge zu ergeben, ohne zu erkennen, dass wir das wahre Leben verpasst haben.

Ist darin impliziert, dass Gottes Gaben für uns trügerisch sind? Nein, trügerisch sind sie nicht in sich, sondern allein wenn wir sie nicht im rechten Licht wahrnehmen. Gott gibt uns seine Gaben in der gefallenen Welt, damit wir uns dadurch seiner Güte als Vater überzeugen lassen und suchen, was da oben ist. Wenn wir nämlich Gottes Vatergüte erkennen, ist uns damit auch klar, dass wir noch nicht ans Ziel gelangt sind. Die rechte Sicht der irdischen Güter führt uns daher nicht weg vom Weg des Glaubens, sondern ermuntert uns, diese irdische Existenz zu verlassen und bei Christus einzuziehen.

„Wenn also die Gläubigen das sterbliche Leben erwägen, dann soll dabei als Hauptgesichtspunkt folgendes dienen: wenn sie erkennen, dass dies Leben an und für sich nichts anderes als ein Elend ist, so sollen sie mit desto größerer Freudigkeit und Bereitschaft sich ganz dem Trachten nach jenem kommenden, ewigen Leben widmen. Ist es einmal zu diesem Vergleich gekommen, dann kann man das irdische Leben nicht nur ruhig geringschätzen, sondern soll es auch im Vergleich mit dem zukünftigen gänzlich verachten und verschmähen. Denn wenn der Himmel unsere Heimat ist, was ist dann die Erde anderes als Verbannung? Wenn das Auswandern aus dieser Welt der Eingang ins Leben ist, was ist die Welt dann anderes als ein Grab? Was bedeutet dann das Verweilen in der Welt anderes, als dass wir in den Tod versunken sind? Führt uns die Befreiung vom Leibe zu wahrer Freiheit - was ist dann dieser Leib anderes als ein Kerker? Wenn die höchste Seligkeit darin besteht, dass wir Gottes Gegenwart genießen, ist es dann nicht ein Elend, sie noch entbehren zu müssen?

Wir „wallen“ aber wirklich „ferne vom Herrn“, bis wir von dieser Welt den Abschied genommen haben (2Kor. 5,6). Vergleicht man also das irdische Leben mit dem himmlischen, so wird man es ohne Zweifel leichthin verachten und mit den Füßen treten. Jedoch sollen wir es nie und nimmer hassen, es sei denn, sofern es uns der Sünde unterworfen sein lässt; aber auch dieser Hass soll nicht eigentlich auf das Leben selber gerichtet werden. Wie dem aber auch sei, wir sollen jedenfalls diesem Leben gegenüber in der Weise Widerwillen und Hass empfinden, dass wir nach seinem Ende verlangen, zugleich aber auch bereit sind, nach dem Willen des Herrn in ihm zu verbleiben; unser Widerwille soll also fern von jeglichem Murren und aller Ungeduld sein.

Das Leben ist eben wie ein Wachtposten, auf den uns der Herr gestellt hat und den wir nicht verlassen dürfen, bis er uns abberuft. So beweint auch Paulus sein Los, weil er länger, als er es wünschen könnte, von den Fesseln des Leibes gebunden gehalten wird, und er seufzt in heißem Verlangen nach Erlösung (Röm. 7,24), und doch will er Gottes Befehl gehorchen und bekennt, dass er zu Leben und Sterben bereit ist (Phil. 1,23f.). Er weiß, dass er es Gott schuldig ist, seinen Namen durch Tod oder Leben zu verherrlichen (Röm. 14, 8), und da ist es Gottes Sache, festzustellen, was am meisten zu seiner Verherrlichung dient. Wenn wir also dem Herrn leben und sterben sollen (Röm. 14, 8), so wollen wir auch seinem Ermessen die Grenze von Tod und Leben überlassen. Aber doch so, dass wir im Sehnen nach dem Tode brennen und fleißig nach ihm trachten, das Leben aber gegenüber der kommenden Unsterblichkeit verachten und wünschen, es um der Sündenknechtschaft willen hinzugeben, wenn es dem Herrn gefällt.“[10]

Der Charakter der Bekehrung als Testfall

Calvins Sicht der Umkehr und der Heiligung ist ein Testfall dafür, wie seine Theologie ineinander steckt, grob gesagt: ob da Plato regiert oder die Bibel.

Es ist klar: Calvin betont in seiner Rede der Bekehrung des Menschen den negativen Aspekt, wenn er zum Beispiel vom „abnegatio nostri“ spricht. Wenn er über „abnegatio nostri“ spricht, sind wir heute wohl geneigt das im Sinne eines negativen Selbstbildes oder auch einer platonisch angehauchten Anthropologie zu deuten. Wir sollten aber in Gedanken behalten, dass Calvin nie über den Menschen an sich spricht, sondern immer im Rahmen des immer und überall aktiven Handelns Gottes.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie erstaunt ich vor mehr als dreißig Jahren war, als ich im schönen Buch von Werner Krusche las, wie die „menschliche Sozietät“[11] nach Calvin ganz und gar durchatmet ist und getragen wird von der Präsenz des Geistes. Jede Aussage von Calvin unterstellt diese aktive Präsenz Gottes bei seiner Schöpfung. Und auch und vor allem in der Heiligung hat Calvin nicht unsere Aktivität an sich im Auge, sondern Gottes heiligendes Handeln in uns. In Institutio III,7,1 bemerkt Calvin:

„Der Hauptgrundsatz dieser Erziehungsweise ist der: die Gläubigen haben das Amt, ,ihre Leiber zu begeben zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei - welches sei ihr vernünftiger Gottesdienst!‘ (nach Röm. 12,1). Aus diesem Satz entnimmt Paulus Ursache zu der Ermahnung: ,Und stellet euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen möget, welches da sei der Wille Gottes!‘ (Röm. 12,2). Das ist nun eine große Sache, dass wir dem Herrn geheiligt und geweiht sind - um nun in unserem Denken, Reden, Trachten und Handeln nichts anderes zu tun, als was zu seiner Ehre dient! Denn das, was Gott heilig ist, zu unheiligem Gebrauch zu bestimmen, das bedeutet entsetzliches Unrecht gegen ihn!“[12]

Es ist das ,Amt‘ der Gläubigen, ihre konkrete Existenz – wenn Calvin Römer 12,1f als die grundlegende Bestimmung des christlichen Lebens in der Heiligung abstempelt, so ist ihm präsent, dass da das Wort ,Leib‘  steht – im Dienste Gottes darzugeben. Unsere Heiligung wird hier vollends irdisch: diese Erde, die wir Gott ja geraubt haben, kommt durch Gottes heiligendes Handeln in uns wieder zu ihrer Ziel, theatrum gloriae Dei zu sein.

Es ist wichtig zu sehen, was hier bei Calvin vorgeht. Wenn aller Akzent auf Gottes heiligendes Handeln gelegt wird, so ist das eine ungeheure Befreiung – und als solche eine Freude! Rechtfertigung und Heiligung werden nicht ängstlich von einander getrennt, die poenitentia wird nicht isoliert zum Umgang mit dem Gesetz, der dem Glauben vorangeht, sondern es ist die eine messianische Bewegung in die Christus den Gläubigen mitnimmt. Bei Calvin – das ist eine Erneuerung innerhalb der reformatorischen Bewegung – ist poenitentia nicht der Weg über den wir zum Glauben kommen, sondern sie ist ganz und gar dem Glauben einverleibt.[13]

Dadurch wird die poenitentia aus dem Kreisen um sich herum befreit, was eine schreckliche Quelle der Ungewissheit war, die die Menschen des ausgehenden Mittelalters gequält hat und die Gestaltung des neuen Lebens im Wege gestanden hat. Wo Umkehr gesehen wird als Vorbereitung auf die Gnade, da kann es nur schwer zu ungestörter Freude, zur Glaubensgewißheit, zu einem befreiten und erleichterten Gewissen kommen. Da herrscht eine bleibende Dialektik von Gesetz und Evangelium, die den dritten usus des Gesetzes skeptisch gegenüber steht und die Heiligung nicht gerade inhaltlich fördert. Wo aber der Glaube regiert, da bin ich frei und kann ich wirklich ohne Nebengedanken meines Nächsten Bestes suchen. Der rechtmäßige Gebrauch von Gottes Gnadengaben besteht darin, dass wir sie freimütig und gerne mit den anderen teilen!

„Damit uns nun aber nicht vielleicht verborgen bleibt, dass dies das Gesetz ist, nach dem wir alle Gaben, die wir von Gott empfangen haben, recht verwalten sollen - so hat Gott eben diese Ordnung bereits in die geringsten Geschenke seiner Güte vorzeiten hineingelegt. Er hat näm­lich geboten, ihm die Erstlinge der Früchte darzubringen (Ex. 22,28; 23,19). Dadurch sollte dem Volke bezeugt werden, es sei unrecht, wenn es für sich selber aus solchen Gütern Nutzen ziehen wollte, die nicht zuvor dem Herrn geweiht waren! Diese Gaben Gottes sind aber erst dann für uns geheiligt, wenn wir sie mit eigener Hand ihrem Geber selbst wieder dargebracht haben; es ist also alles das ein unreiner Mißbrauch der Gaben, was jene Darbringung nicht erkennen läßt. Es wäre nun aber ein vergebliches Bemühen, wolltest du Gott durch Hergabe deines Besitzes etwa reich machen! Da nun aber dein Wohltun nicht zu ihm zu dringen vermag, so sollst du es nach den Worten des Propheten gegen seine Heiligen üben, die auf Erden sind! (Ps. 16,2f.).“[14]

Wenn meine poenitentia, meine Werke, nicht mehr Vorbereitung und insofern Heilsbedingung sind, wenn alles anfängt mit dem Glauben an Jesus Christus, da kann es zu einer erleichterten Freude kommen.

Ist damit die Frage, ob Gottes heiligende Handeln in uns in Zeichen der Freude steht, beantwortet? Nein, wir hörten eben, für Calvin sei nicht der Dekalog ausschlaggebend fürs christliche Leben, sondern Römer 12,1f, wo unser Leben als Opfer dargestellt wird. Lässt sich Freude mit Opfer verbinden?

Tolerantia crucis

Im Zeichen des Opfers steht die christliche Existenz. Es geht darum, dass sie sich erneuern lassen, Calvin schreibt – anders als Otto Weber in seiner Übersetzung: „verändert euch“ - ,transformentur‘ (Konjunktiv von transformantur). Es handelt sich um ein passivum divinum, das heißt: ein Verb in Passivform, um damit auf Gottes Handeln zu verweisen. Es ist Gottes heiligendes Handeln in uns. Vergessen wir nicht – man kann die Metapher ,Opfer‘ nicht gedankenlos übernehmen.

In Römer 12 – sowohl für Paulus wie für die Adressanten seines Briefes – war dieses Wort unlöslich mit schrecklichen Konnotationen verknüpft. Was im Tempel in Jerusalem, aber auch in den Kulten außerhalb von Israel passierte, war ein abscheulicher Vorgang. Es ist nicht etwas Schönes und Erhabenes. In Israel handelt es sich unter anderem um eine blutige Bedeckung der Schuld. Da kann man nicht hingehen mit dem Gedanken, es sei ein schöner und erbaulicher Ritus. Da spürt man auch leiblich, dass die Sünden aus der Welt weggeschafft werden müssen, und dass Sünde und Schuld nicht nur – wie wir das in den Niederlanden sagen – „zwischen den Ohren“ stecken. Oder anders gesagt: Schuld ist etwas anderes als aus dem Weg zu Räumendes Schuldgefühl. Die Opfer im Tempel stellen das ins Licht.

Wenn Calvin in Anschluss an Römer 12 das christliche Leben im Zeichen des Opfers darstellt, kann es nicht anders sein, als ob da etwas passiert im Menschenleben. Der Weg des Kreuzes ist – wie bei Luther – nicht ein rein innerlicher Vorgang, obwohl des Menschen Innere da zentral steht, sondern vollzieht sich im Alltag. Da kann man denken an das Flüchtlingsein, an das Verjagt-Werden aus Genf und derartiges. Solches macht keinem Menschen Freude. Nun spüren alle Menschen in ihrem Leben und um sich herum die Folgen des Sündenfalls. Der Christ aber unterscheidet sich dadurch, dass er sein Kreuz freiwillig trägt. Für sie und ihn ist es nicht einfach Pech oder Schicksal, sondern für sie ist es eine Schule des Glaubens. Calvin spricht in diesem Zusammenhang von der „tolerantia crucis“. Nein, es hat mit ,Opfer‘ zu tun, man kann sagen: es ist die Übersetzung in nicht-kultische Sprache. Und diese Übertragung von dem Kontext des Kultus in die des Alltags hat – so ist auch die Spitze von Römer 12,1 – alles damit zu tun, dass das ganze Leben in Gottes heiligendes Handeln einbezogen und aufgenommen wird.

Der Christ trägt sein Kreuz willig, weil sie und er wissen, dass sein Fleisch der Kreuzigung bedarf. Die stellt im Wesentlich kein aktives Tun dar, sondern lässt sich eher kennzeichnen als passio.[15] Wie bei Luther – ich denke an seinen Ausdruck vita passiva – kann Gottes heiligendes Handeln nur erlitten werden. Da sollen wir nicht an die mittelalterliche Mystik denken, da geht es nicht um Anthropologie, sondern um die Kehrseite des Handelns vom Heiligen Geist. Sagt der Apostel nicht, dass wir so dran sind, dass wir keine blasse Ahnung dessen haben, was wir beten sollen, wie es geziemt (Röm 8,26), das heißt, welche konkrete Gestalt Gottes gutes und weises Regiment hat? Wir gehören darum in diesem Leben in die Schule des Geistes. Und der Geist wirkt nicht nur innerlich, sondern auch durch die Widerfahrnisse unseres Lebens. Wie gesagt, der Weg des Kreuzes ist nicht ein rein innerlicher  Vorgang, sondern Gott handelt mit und an uns durch all dasjenige, das auf uns zukommt. Und Er hat ein Ziel damit:

„Welcherlei Trübsal uns aber auch drücken mag, so müssen wir immer ihren Zweck ins Auge fassen: wir sollen uns daran zu gewöhnen lernen, das gegenwärtige Leben zu verachten, und so zum Trachten nach dem zukünftigen gereizt werden. Gott weiß aber nun sehr wohl, wie sehr wir von Natur zu einer unsinnigen Liebe zu dieser Welt geneigt sind, und deshalb wendet er das beste Mittel an, um uns da herauszuziehen und uns die Schläfrigkeit auszutreiben, damit wir nicht allzu beharrlich in solcher Liebe festhängen bleiben! Wir möchten zwar alle gern den Anschein erwecken, als ob wir uns unser ganzes Leben hindurch nach der himmlischen Unsterblichkeit sehnten und ausstreckten. Denn wir schämen uns, die unvernünftigen Tiere in keiner Hinsicht zu übertreffen, und deren Zustand wäre tatsächlich keineswegs geringer als der unsere, - wenn wir nach dem Tode keinerlei Hoffnung auf das ewige Leben mehr hätten!“[16]

Dies sollen wir bedenken, wenn wir den Leitsatz von Institutio III.7.1 lesen: „Summa vitae Chritianae: ubi de abnegatione nostri.“  Wir werden Calvin nicht gerecht, wenn wir das als Ausdruck einer negativen Anthropologie, einer pessimistischen Sicht des Menschen, interpretieren. In diesem Leben geht es für uns darum, alles sich Festklammern an dieser Welt abzulegen, nicht weil die Welt trügerisch ist, sondern weil wir so dran sind, dass wir immer in Gefahr sind zu vergessen, dass wir zur wahren Erkenntnis Gottes gelangen sollen, das heißt Menschen zu werden und zu sein, die wissen, worauf es ankommt. Gott lehrt und übt uns, indem er uns ein Kreuz auferlegt, damit wir uns nicht durch den Wahn dieser Welt bezaubern lassen, sondern uns davon durchdringen lassen, dass die wahre Freude vor uns liegt (Hebr. 12,1).

Die abnegatio nostri ist kein Hass gegen dieses Leben als solches, denn trotz allem Elend ist es Gottes Schöpfung. Calvin hätte nie bei seiner Kennzeichnung der positiven Erfahrungen in Gottes Welt ansetzen können, hätte er so gedacht. In der spezifischen abnegatio nostri, für die er plädiert, geht es um die Wiedergewinnung der wahren eschatologischen Freude und um die Freilegung der Sicht für Gottes unverdiente Güte in diesem Leben. Die Asketen, die sich allen Genusses entsagen, tadelt er. Man darf und soll sogar Gottes Gaben benutzen zu dem Zweck, wofür Er sie uns gibt, nämlich, dass wir genährt werden und mit Geschmack, dass wir bekleidet werden – und mit Kleidern die uns zieren. Nur wenn wir hier die Mitte halten – nicht eine formelle und gesetzliche, sondern eine evangelische und inhaltliche Mitte – leben wir in wahrer Freiheit und Freude. Und dem Nächsten wird gedient.

„Dieses Ersterben (des alten Menschen) wird also in uns erst dann statthaben, wenn wir die Liebespflicht gegen unseren Nächsten erfüllen. Diese Erfüllung findet sich noch nicht da, wo ein Mensch bloß alle Werke der Liebe ableistet - selbst wenn er keines unterläßt! Sie ist erst da vorhanden, wo einer das aus aufrichtiger Liebesgesinnung heraus tut!“ [17]

Sodann führt Calvin aus, wir sollen darauf achten, dass mein Mitmensch nicht von mir abhängig wird und auch, dass ich ihn nicht schmähe. Und er folgert dann:

„Denn wir glauben doch nicht, dass die Dienstgemeinschaft unter den Gliedern für ein unverdientes Geschenk zu halten ist; sie ist doch vielmehr die Erfüllung einer Verpflichtung, die aus dem Gesetz der Natur stammt und deren Verleugnung ungeheuerlich wäre. Daraus ergibt sich nun aber auch, dass ein Mensch, der eine bestimmte Dienstleistung vollbracht hat, nun nicht denken soll, er sei frei - es kommt ja allgemein immer wieder vor, dass ein reicher Mann etwas von seinem Besitz hingibt und dann andere Lasten auf andere abschiebt, als ob sie ihn nichts angingen. Nein, es soll vielmehr jeder bei sich bedenken, dass er mit allem, was er ist und hat, seines Nächsten Schuldner ist - und dass sein Wohltun gegenüber dem Nächsten erst dann sein Ende findet, wenn sein Vermögen dazu aufhört; denn soweit sein Vermögen reicht, muß es auch nach der Regel der Liebe bestimmt sein!“[18]

Die meditatio futurae vitae

Wenn nun die abnegatio sui und die tolerantia crucis das heiligende Handeln Gottes unter negativem Vorzeichen darstellen, so ist nun die Frage, ob alles nur – von unserer Perspektive her – im Zeichen der Negativität steht. Wir sagten schon: die Lehre von der Heiligung sei die Testprobe, ob Calvin in einem Platonismus stecken bleibt und der Vorwurf, bei ihm fehle die Freude und jeden Genuss der Dingen dieser Erde, also berechtigt ist. Nun haben die abnegatio sui und die tolerantia crucis eine Kehrseite, und zwar die meditatio futurae vitae.[19]

Ein Bild des christlichen Lebens in der Heiligung, das Calvin in diesem Zusammenhang benutzt, ist das des Wachtpostens.[20] Was sieht er darin zum Ausdruck gebracht? Es ist eine Metapher aus der Sphäre des Militärischen. Es ist doch wohl etwas anderes, als die Welt anzusehen als Ort der Selbstentfaltung oder etwa auch des sorglosen Genusses, oder die Welt als Material meiner Pflicht. Nein, es besagt, mit dieser Welt sei etwas passiert, da ist nicht umsonst die Rede vom Kampf. Aber Kampf um diese Erde, und keine Weltflucht. „Brüder, bleibt der Erde treu“ ist in gewisser Weise darin enthalten. So ist diese Metapher eine Brille, die eine neue Sicht freilegt – die rechte Sicht. Wir bekommen eine Perspektive, die uns Grund unter den Füßen gibt.

1. Erstens gibt diese Metapher unserem Leben eine feste Struktur. Die Idee des Wachtpostens bringt zum Ausdruck, dass wir nicht in einer strukturlosen Welt hineingeworfen sind, in der wir selber Ordnung schaffen müssen. Gott hat uns geschaffen und umgibt uns mit Erweisen seiner Güte. Wir sollen uns aber nicht diesen ergeben. Der Metapher des Wachtpostens hindert uns daran, in den direkten Genuss aufzugehen, wie Tiere.
2. Wir werden beauftragt mit einer Verantwortung. Wir gehören nicht uns selbst, sondern Christus. „Nostri non sumus“.[21] Unser Leben steht nicht im Zeichen der Autonomie. Nein, „nostri non sumus“. Damit ist die Ethik entscheidend charakterisiert. Unser Leben gehört Gott, der will, dass wir unseren Nächsten lieben.
3. Unsere Verantwortung ist begrenzt. Wir sind nicht dazu berufen, den eigentlichen Kampf zu führen und den Sieg zu erringen. Wir leben auf dieser Erde, fern vom Herrn. Wir wollen aber Ihm gefallen.
4. Das Leben ist ein Kampf. Es gibt die Sünde, die Macht des Bösen, wir haben wachsam und nüchtern zu sein und sollen kämpfen in der geistigen Waffenrüstung.
5. Wir sehnen uns nach Ablösung von unserem Posten. Es bedarf keiner ausführlichen Begründung - diese Sicht Calvins steht dem heutigen Lebensgefühl quer entgegen. Der Ethiker Frits de Lange hat aber vor kurzem darauf hingewiesen, was für große Folgen der Verlust der Ewigkeit gezeitigt hat. Gerade in unserem Zeitalter zeigt sich, dass „von geschichtlicher Perspektive her die Menschen nicht länger, sondern - wegen des Verlustes der Ewigkeit - unendlich kürzer leben. (...) Der Wegfall des Jenseits aus dem kollektiven Glaubenserlebnis hat tiefgreifende Folgen für die Zeitempfindung der älteren Menschen. Die Zeit verliert ihre Perspektive.“[22]

Freude?

Ich setzte an mit der Frage, ob dieses Leben ein Leben in Freude ist, oder phantasie- und trostlos, wie Harry Mulisch – mit vielen Anderen – es sieht. Diese Frage lässt sich nicht im Allgemeinen beantworten. Das heißt: es liegt eine andere Frage davor. Es ist in unserer Erlebnis-Gesellschaft eine Sicht des Lebens und des Genusses dominant, die alles hier und jetzt haben will. Es gibt andererseits eine neue Suche nach Lebenskunst.

Kann Calvin in diese Debatte eingebracht werden? Schon, aber nicht als eine Stimme neben anderen, sondern nur, wenn wir in unserem Verhalten Zeugnis davon ablegen, dass poenitentia und abnegatio sui für uns selber im Zeichen der Freude stehen.


Zitierempfehlung:
Gerard C. den Hertog, Gottes heiligendes Handeln in uns: Abbau und Kreuztragen - in Freude?, auf: www.reformiert-info.de, URL: http://www.reformiert-info.de/2551-0-105-16.html (Abrufdatum)

[1] H. Mulisch, Het theater, de brief en de waarheid. Een tegenspraak, o.O.. 2000, 7.

[2] D. Schellong, Wie steht es um die „These“ vom Zusammenhang von Calvinismus und „Geist des Kapitalismus“?, Paderborner Universitätsreden 47, Paderborn 1995, 3: „Nun, dass Calvin die Auffassung vom wirtschaftlichen Erfolg als Maßstab des Erwähltseins gehabt habe, mag bekannt sein; es darf aber nicht verschwiegen werden, dass es zumindest einige Leute gibt, denen dies gänzlich unbekannt ist, und das sind die Calvin-Leser. Mir ist nicht bekannt, dass ein Calvin-Leser je bei Calvin auf diese Meinung gestoßen ist.“

[3] Vgl. J. van Eck, God mens, medemens. Humanitas in de theologie van Calvijn, Franeker 1992, 169v.

[4] Vgl. J. van Eck, God mens, medemens, 171.

[5] Vgl. J. van Eck, God mens, medemens, 174.

[6] H.W. de Knijff, Venus aan de leiband. Europa’s erotische cultuur en christelijke sexuele ethiek, Kampen 1987, 174.

[7] H.W. de Knijff, Venus aan de leiband, 176.

[8] Vgl. J. van Eck, God mens, medemens, 183.

[9] J. Calvin, Genfer Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537), in: Eberhard Busch, Alasdair Heron, Christian Link, Peter Opitz, Ernst Saxer, Hans Scholl (Hg.), Calvin-Studienausgabe. Band I,1. Reformatorische Anfänge 1533-1541, Neukirchen-Vluyn 1994, 139.

[10] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,9,4.

[11] W. Krusche, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, Göttingen 1957, 95-125.

[12] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,7,1.

[13] Vgl. M. den Dulk, ... Als twee die spreken. Een manier om de heiligingsleer van Karl Barth te lezen, ’s-Gravenhage 1987, 23-36.

[14]J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,7,5.

[15] Vgl. D. Schellong, Das evangelische Gesetz in der Auslegung Calvins, (Theologische Existenz heute NF 152), München 1968, 39.

[16] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,9,1.

[17] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,7,7.

[18] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,7,7.

[19] Vgl. A. Baars, Meditatio futurae vitae bij Calvijn, Theologia Reformata 47 (2004) 233.

[20] J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,9,4.

[21]J. Calvin, Institutio Christianae religionis, III,7,1.

[22] F. de Lange, De armoede van het zwitserlevengevoel. Pleidooi voor een beter ouder worden, Zoetermeer 2008, 112f (meine Übersetzung).


Prof. Dr. Gerard C. den Hertog, Apeldoorn