Mein Gott, wo bist du?

Predigt zu Klagelieder 3,22-26.31-32

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Was ist denn die Grundlage der Hoffnung, dass Gottes Barmherzigkeit noch kein Ende hat?

22 Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,
23
 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.
24
 Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.
25
 Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.
26
 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.
27
 Es ist ein köstlich Ding für einen Mann, dass er das Joch in seiner Jugend trage.
28
 Er sitze einsam und schweige, wenn Gott es ihm auferlegt,
29
 und stecke seinen Mund in den Staub; vielleicht ist noch Hoffnung.
30
 Er biete die Backe dar dem, der ihn schlägt, und lasse sich viel Schmach antun.
31
 Denn der HERR verstößt nicht ewig;
32
 sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.
Klagelieder 3, 22-32; Predigttext: Klagelieder 3,22-26.31-32

Liebe Gemeinde,
Vor wenigen Tagen wurde am Gilbergfriedhof in unserem Dorf die Gedenkstätte für die Opfer des 2. Weltkriegs eingeweiht. Anlass genug für uns Menschen der jüngeren Generation, die den Krieg nicht miterleben mussten, die ältere Generation zu befragen: Wie war das damals? Wie habt ihr den Krieg und das Kriegsende erlebt? Was habt ihr gedacht und empfunden?
Viele der Überlebenden konnten sich damals in den Worten unseres Predigttextes wiederentdecken: „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind.“ Denn dieser Satz bringt das Empfinden der Überlebenden zur Sprache, den Dank und die Freude darüber, mit dem eigenen Leben davon gekommen zu sein: „Gott sei Dank! Wir sind verschont worden!“
Doch gilt dieser Satz auch angesichts der Opfer? Gilt er angesichts der mehr als fünfzig Millionen Toten des 2. Weltkriegs? Mit Blick auf das eigene Überleben mag er ja sehr berechtigt sein. Aber im Blick auf alle die, die den rassistischen Vernichtungskrieg nicht überlebten, will er uns nicht recht über die Lippen gehen.

Mich hat in diesen Tagen die Kriegsschilderung Jürgen Moltmanns, der als einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts gilt, sehr bewegt. Übrigens war Moltmann nicht unweit von hier, nämlich in Erndtebrück, vor mehr als 50 Jahren Vikar. Moltmann schreibt: „Ich stamme aus einer säkularen Hamburger Lehrerfamilie. Religion und Theologie lagen mir ganz fern, ich wollte Physik und Mathematik studieren: Max Planck und Albert Einstein waren die Helden meiner Jugend. In der letzten Juliwoche 1943 wurde Hamburg durch die ‚Operation Gomorrah’ der englischen Royal Air Force im Feuersturm vernichtet. 30.000 Menschen verbrannten. Mit meiner Schulklasse war ich als Luftwaffenhelfer in einer Flakbatterie der Innenstadt. Sie wurde zerstört, die Bombe, die den Schulfreund neben mir zerriß, verschonte mich. In der Nacht habe ich zum ersten Mal nach Gott geschrieen: Mein Gott, wo bist du? [...] Während einer dreijährigen Kriegsgefangenschaft suchte ich Antwort“[1].

Auf die Frage nach Gott angesichts des entsetzlichen Leides suchten damals viele Menschen eine Antwort. Längst nicht alle vermochten als Ergebnis ihrer Kriegserfahrungen den Satz unseres Predigttextes mitzusprechen: „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende.“ Viele fragten angesichts des riesigen Heeres von Opfern danach, ob dieser Satz denn wahr sei, ob er denn ein begründeter Satz sei, ein Satz, der Anhalt in der Erfahrung, in der Wahrnehmung oder wo auch immer habe. Was ist denn die Grundlage der Hoffnung, dass Gottes Barmherzigkeit noch kein Ende hat? – So fragen auch wir uns heute Morgen.

Mit dieser unserer Frage nach der Güte Gottes schauen wir nun in den Predigttext hinein. Er nimmt die Katastrophensituation des Jahres 587 v. Chr. in den Blick. Damals wurde Jerusalem von den Babyloniern erobert und dem Erdboden gleich gemacht, seine Frauen geschändet, seine Stadtmauern geschliffen, der König geblendet und mit der Oberschicht ins babylonische Exil deportiert. Zurück blieben nur noch die unteren Schichten der Landbevölkerung, die Armen. Am schlimmsten war für sie die Zerstörung des Tempels, des Ortes der Gegenwart Gottes. Denn wenn der Ort der Gegenwart Gottes zerstört war, dann war somit die Gegenwart Gottes zerstört, dann war Gott nicht mehr da und sein Volk gottverlassen. Die Zerstörung des Tempels bedeutete also Gottesverlassenheit. In seinen Trümmern kamen die Verlassenen zu Klagefeiern zusammen. Das biblische Buch der Klagelieder enthält in seinen 5 Kapiteln diese Gesänge, lang anhaltende, untröstlich erscheinende Klagen, die allesamt um das Thema „Zerstörung“ kreisen.
Dazwischen erhebt sich im dritten Kapitel die Stimme eines Einzelnen, die Stimme dessen, dem wir unseren Predigttext verdanken. Seine Identität wird nicht enthüllt. Er selbst stellt sich mit den Worten vor: „Ich bin der Mann, der Elend sah“ (V.1). Dieser Mann klagt schwer und erinnert uns dabei an Hiob: „Gott hat mich in Finsternis versetzt wie die, die längst tot sind. Er hat mich ummauert, dass ich nicht heraus kann, und mich in harte Fesseln gelegt. Und wenn ich schreie und rufe, so stopft er sich die Ohren zu vor meinem Gebet. [...] Er hat mir seine Pfeile in die Nieren geschossen“ (V.6-8.13).

Doch ganz plötzlich reißt der Himmel düsterer und verzweifelter Gedanken auf. Trostvolle, ermutigende Worte leuchten auf wie die helle Sonne nach einem schweren Unwetter: „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende!“

Wie kann dieser Einzelne, der Verfasser unseres Predigttextes so hoffnungsvoll reden? Er hat doch Schlimmes erlebt! Wie kommt er zu seinem persönlichen Vertrauensbekenntnis? Woraus schöpft er die Gewissheit: „Der Herr wird nicht auf ewig verstoßen“ (V.31)?
Auf den Tempel als heiligen Ort der Gegenwart Gottes kann er sich nicht mehr berufen. Ebenso wenig auf das Land als die durch Gottes Gegenwart verbürgte Geborgenheit der Heimat. Denn dies alles ist zerstört.
Oder ist ihm vielleicht allein schon die Tatsache, dass wenigstens er die Katastrophe überlebt hat, Grund genug für die Annahme, dass Gott nicht für immer und nicht gerne betrübt? Doch wohl nicht, denn ihm als einzelnem Geretteten steht das Heer derer gegenüber, die die Katastrophe nicht überlebt haben.
Oder ist vielleicht die Tatsache, dass er trotz der persönlichen Not die Hoffnung nicht verloren hat, eine Widerlegung der Behauptung, Gottes Güte sei erschöpft? Nein, auch hier werden wir sagen müssen, dass die geschichtlichen Tatsachen des Jahres 587 v. Chr. eine andere Sprache sprechen als das persönliche Empfinden dieses Einzelnen! Was also bildet den Grund der Hoffnung auf erneute Zuwendung Gottes?

Die Antwort ist einem winzigen Detail zu entnehmen, das nicht übersehen werden will. „Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen“ (V.24), so heißt es in unserem Predigttext; und das „darum“ zeigt an, dass es sich hier um die gesuchte Begründung der Hoffnung handelt. Inwiefern begründet aber die Aussage: „Der Herr ist mein Teil“, solche Hoffnung?
Nun, hier wird das Beispiel der Leviten aufgegriffen. Anders als alle anderen Stämme Israels bekamen sie als Gruppe der Priester damals, als Israel das gelobte Land endlich erreicht hatte, keinen Boden, kein Land zugeteilt. Ihr Anteil war Gott. Ihm verdankten sie ihren ganzen Lebensunterhalt. Das Bekenntnis „Gott ist mein Teil“ besagt demnach: „Gott ist für mich wie das Land, von und auf dem ich lebe. Er ist tragender Grund meiner Existenz.“

Und indem der Verfasser unseres Predigttextes nun diesen alten Satz, das alte Bekenntnis der Leviten „Gott ist mein Teil“ aufgreift, will er seinen verzweifelten, sich ganz verlassen fühlenden Volksgenossen sagen: „Gottes Treue hängt nicht von der Gabe des Landes und auch nicht vom Tempel als Heilszeichen ab. So wie Gott den Leviten auch ohne Landbesitz Existenzgrundlage war, so will er auch uns Existenzgrundlage sein und für uns sorgen“. Darum ist Grund zur Hoffnung, wo nichts mehr zu hoffen ist.
Der Verlust von Land und Tempel bedeutet keinen heilsgeschichtlichen Abbruch. Auch wenn die Gabe des Landes verloren gegangen und der Tempel zerstört ist, so bleibt Gott doch treu. Der Bund, den er mit den Vätern schloss, ist und bleibt in Kraft: „Der Bund, der Abrams Hoffnung war, steht jetzt noch da unwandelbar“ (EG-Psalter 105,4).

Für uns als Christenmenschen ist der Bund Gottes mit seinem Volk Israel in Jesus Christus erfüllt worden. Für uns weist der Predigttext mit seinem Bekenntnis zur Treue Gottes somit über das Alte Testament hinaus, hinüber ins Neue Testament, zu Jesus Christus. In ihm verstößt Gott nicht ewig und in ihm hat Gott sich wieder erbarmt nach seiner großen Güte.
Diesen Jesus hat auch der junge Soldat Moltmann, dessen Kriegsschilderung ich eingangs vorlas, als die „Treue Gottes“ in Gefangenschaft erfahren. Im Blick auf seine Frage: „Mein Gott, wo bist du?“, die ihn schließlich dazu veranlasste, Theologie zu studieren, schreibt er: „Ich brauchte ‚Trost im Leben und im Sterben’ [...] und fand ihn durch das zufällige Lesen der Bibel und die unverdiente Freundlichkeit schottischer und englischer Christen in dem Christus, der in seiner Passion mein Bruder in der Not wurde und durch seine Auferstehung von den Toten auch mich zu einer lebendigen Hoffnung erweckte. Meine Todeserfahrung am Ende des Krieges, meine Depressionen über die Schuld meines Volkes und die inneren Gefahren der völligen Resignation hinter Stacheldraht waren der erste locus theologicus [d.h. der erste theologische Ort, die erste theologische Fragestellung] für mich und sind es im tiefsten Grunde meiner Seele auch geblieben.“[2]

Liebe Gemeinde, einige werden jetzt vielleicht sagen: „Schön, dass Moltmann in seiner Gottesverlassenheitserfahrung im Lichte von Ostern Trost fand. Gut für ihn. Aber was hat das mit mir und meinem eigenen Leid und mit meiner eigenen Erfahrung von Gottesverlassenheit zu tun?“

Im Blick auf diese Frage ist es entscheidend zu sehen: Das Geschehen am Kreuz und am Ostermorgen ist kein Geschehen, das nur den großen Theologen J. Moltmann angeht, sondern uns alle, mich und dich. Auch du, der du jetzt so fragst, darfst wissen: „Gott zeigt dir mit Kreuz und Auferstehung, dass er sich von dir dabei behaften lassen will: Selbst am Kreuz, selbst im äußersten Fall, der dir widerfahren mag, verlasse ich dich nicht, so gewiss ich auch meinen Christus am Kreuz nicht verlassen, sondern ihn auferweckt habe.“

Am Ostermorgen hat Gott meine und deine Gottesverlassenheit widerlegt. Denn indem Gott selbst leidet, mit Christus mitleidet und ihn schließlich auferweckt, ist dieser am Kreuz Leidende und Schreiende eben nicht von Gott verlassen, sondern ist Gott mit ihm. Hier zeigt sich die Größe des göttlichen Erbarmens darin, dass Gott zu dem Erbärmlichsten fähig ist, zu diesem Tod und zu diesem Leid am Kreuz. Und hier zeigt sich die Größe des göttlichen Erbarmens darin, dass Gott zu dem Größten fähig ist, nämlich einen Toten aufzuerwecken.

Gott setzt sich dem Schmerz und dem Leid, dem Tod und der Verwesung aus, um mir und dir zu zeigen: „Meine Liebe und Bundestreue zu euch Menschen ist so groß, dass keine Sünde, kein Leid, kein Schmerz und kein Tod, schon gar nicht der Verlust von Land und Tempel mich von euch Menschen trennen kann. Meine Barmherzigkeit hat selbst an der Grenze des Todes und der Verlassenheit noch kein Ende.“

Als Christenmenschen hoffen wir deshalb, dass Gottes Barmherzigkeit auch an unserem Ende noch kein Ende hat. Jesu Kreuz und seine Auferstehung sind der Grund unserer Hoffnung. Sie stiften Trost im Leben und im Sterben. Amen

Predigt am 4. September 2005 in der Christuskirche zu Siegen-Eiserfeld


[1] J. Moltmann, Wie ich mich geändert habe, KT 151, Gütersloh 1997, 22. Vgl. ders., Wer ist Christus für uns heute?, KT 129, Gütersloh 1994, 30.

[2] J. Moltmann, Erfahrungen theologischen Denkens. Wege und Formen christlicher Theologie, Gütersloh 1999, 20.


Dr. Marco Hofheinz, wiss. Assistent an der Universität Bern
 

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