Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr: Matthäus 25,31-46 - Vom Weltgericht
von Johannes Calvin
Matthäus 25,31-46
31 Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, 32 und werden vor ihm alle Völker versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, gleichwie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, 33 und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. 34 Da wird das der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! 35 Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich beherbergt. 36 Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. 37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dich gespeist? oder durstig und haben dich getränkt? 38 Wann haben wir dich als einen Fremdling gesehen und dich beherbergt? oder nackt und haben dich bekleidet? 39 Wann haben wir dich krank oder gefangen gesehen und sind zu dir gekommen? 40 Und der König wird dann antworten und sagen zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. 41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! 42 Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt. 43 Ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt. ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet. Ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besucht. 44 Da werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich gesehen hungrig und durstig oder als einen Fremdling oder nackt oder krank oder gefangen und haben dir nicht gedient? 45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. 46 Und sie werden in die ewige Pein gehen, aber die Gerechten in das ewige Leben.
Christus ist noch bei derselben Aussage, nur daß er das, was er bisher durch Gleichnisse klarmachte, jetzt ohne Bilder darlegt. Damit sich die Gläubigen zum Eifer für ein heiliges, gutes Leben anspornen, sollen sie mit den Augen des Glaubens auf das himmlische Leben schauen, das zwar jetzt noch verborgen ist, aber bei Christi Kommen einmal offenbar werden wird. Denn wenn er erklärt, er werde dann auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen, wenn er mit seinen Engeln kommt, so stellt er diese letzte Offenbarung in Gegensatz zu dem Getriebe und der Unruhe des Erdenkampfes. Er hätte auch sagen können, er sei nicht dazu erschienen, um sein Reich sofort aufzurichten; darum brauchten die Jünger Hoffnung und Geduld, damit sie bei dem langen Warten nicht müde würden. Die Jünger sollen ihren Irrtum von einer bereits gegenwärtigen, unvorbereiteten Glückseligkeit aufgeben und ihre Herzen auf das zweite Kommen Christi richten, ohne während seiner Abwesenheit zu erliegen und schwach zu werden. Darum redet er von seiner künftigen Königsherrlichkeit. Denn obwohl er seine Herrschaft bereits auf der Erde begonnen hat und jetzt zur Rechten seines Vaters sitzt, um in der Fülle der Macht Himmel und Erde zu regieren, so ist jener Thron doch noch nicht vor Menschenaugen errichtet, von wo seine göttliche Herrlichkeit am Jüngsten Tag noch ganz anders leuchten wird als jetzt. Dann werden wir erst ganz seine herrliche Macht erkennen, von der wir jetzt durch den Glauben nur einen Vorgeschmack haben. Christus sitzt also jetzt auf dem himmlischen Thron, weil es nötig ist, daß er herrscht, um seine Feinde in Zaum zu halten und seine Gemeinde zu schützen. Einst aber wird er vor aller Augen den Richterstuhl besteigen, um im Himmel und auf der Erde die vollkommene Ordnung herzustellen, seine Feinde zu unterwerfen und seine Getreuen in die Gemeinschaft der ewigen Seligkeit zu versammeln. Dann wird es schon an der Wirkung deutlich werden, wozu der Vater ihm die Herrschaft übertragen hat. Christus verheißt, er werde „in seiner Herrlichkeit“ kommen, denn solange er als sterblicher Mensch auf der Erde war, trug er geringe Knechtsgestalt. Diese seine Herrlichkeit ist dieselbe, die er sonst (vgl. etwa Matth. 16, 27) auch seinem Vater zuschreibt; er meint damit einfach die göttliche Herrlichkeit, die damals allein in dem Vater offen leuchtete, als sie in ihm noch verborgen war.
Matth. 25, 32. „Und werden vor ihm alle Völker versammelt werden“. In hohen Worten preist Christus sein Königtum, um den Jüngern zu zeigen, daß sie auf eine andere Seligkeit hoffen sollen, als sie sich bis jetzt Vorgestellt hatten. Sie dachten nämlich nur an die Befreiung ihres Volkes von seinem Leiden und wünschten, daß einmal klar würde, daß Gott seinen Bund mit Abraham und dessen Nachkommen nicht vergeblich geschlossen habe. Christus dagegen sieht eine größere Frucht der durch ihn gebrachten Erlösung: er will ein Richter der ganzen Welt sein. Um außerdem die Gläubigen zu einem heiligen Leben anzuspornen, räumt er mit der falschen Meinung auf, Gute und Böse hätten in gleichem Maß an der Erlösung teil; jeder werde den ihm gebührenden Lohn empfangen. Dann erst wird nach seinem Zeugnis seine Herrschaft vollendet sein, wenn die Gerechten die Krone der Herrlichkeit erlangt haben und den Gottlosen ihr verdienter Lohn ausgezahlt worden ist. Daß erst am Jüngsten Tag die Schafe von den Böcken geschieden werden sollen, bedeutet, daß jetzt Böse und Gute untereinander in ein und derselben Herde Gottes leben. Der Vergleich klingt an das Prophetenwort an (Hes. 34, 21), wo der Herr sich über die Ausgelassenheit der Bocke beklagt, die die armen Schafe mit ihren Hörnern stoßen, die Weide verderben und das Wasser trüben, und wo er versichert, er werde noch einmal ihr Rächer sein. Das Wort Christi fordert also die Gläubigen auf, sich ihre Lage nicht verdrießen zu lassen, wenn sie jetzt mit den Böcken zusammenleben, ja sich allerhand Angriffe und Schwierigkeiten von ihnen gefallen lassen müssen; sie sollen sich nur hüten, daß sie die Berührung mit deren Sünde nicht ansteckt, und immer daran denken, daß ihr heiliges Leben nicht vergeblich ist, weil endlich einmal sich der Unterschied herausstellen wird.
Matth. 25, 34. „Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters.“ Wir müssen uns noch einmal die Absicht Christi klarmachen: er will, daß sich seine Jünger jetzt an der Hoffnung genügen lassen, um geduldig und gelassen auf die Frucht der himmlischen Herrschaft zu warten; außerdem möchte er, daß sie sich ernstlich anstrengen und auf dem rechten Weg nicht müde werden. Mit Bezug darauf verheißt er das himmlische Erbe nur denen, die in guten Werken um die Siegespalme der himmlischen Berufung kämpfen. Bevor er jedoch von der Belohnung der guten Werke redet, deutet er beiläufig an, daß der Grund des Heils tiefer liege. Denn mit der Bezeichnung Gesegnete des Vaters erinnert er daran, daß ihr Heil aus der freien Gnade Gottes fließt, zumal bei den Hebräern der Ausdruck, ein „Gesegneter Gottes" zu sein, soviel bedeutet wie Gott lieb und teuer zu sein. Außerdem bedienten sich nicht nur Gläubige dieses Ausdrucks, um Gottes Gnade an den Menschen zu preisen, sondern auch Leute, die von der wahren Frömmigkeit längst nichts mehr wissen wollten, behielten diesen Grundsatz noch bei. So sagt z.B. Laban zu dem Knecht Abrahams: Komm herein, du Gesegneter des Herrn! - Indem Christus also das Heil der Frommen beschreibt, weist er zuerst auf die unverdiente Liebe Gottes hin, die alle zum Leben bestimmt hat, die sich in diesem Leben unter der Führung des Geistes nach der Gerechtigkeit sehnen. Dahin gehört auch das gleich folgende Wort, das Reich sei ihnen von „Anbeginn der Welt her“ bereitet worden, in dessen Besitz sie am Jüngsten Tag gesetzt werden. Denn wie nahe der Einwand auch liegt, daß dieses Erbe ein Lohn für ihre Verdienste darstellte, so muß doch jeder, der die Worte nüchtern abwägt, stillschweigend zugeben, daß es hier um das Lob der göttlichen Gnade geht. Christus lädt ja auch die Gläubigen nicht einfach ein, sich jetzt in den Besitz des Reiches zu setzen, als ob sie es sich mit ihren Verdiensten erarbeiten würden, sondern er sagt ausdrücklich, es werde ihnen wie Erben gegeben. Auch müssen wir noch auf die andere Absicht achten, die den Herrn hier leitet. Er bezeugt den Gläubigen, daß anderswo ein Reich für sie bereitet ist, obwohl ihr Leben hier nichts anderes darstellt als ein erbärmliches, trauriges Exil, so daß die Welt sie kaum duldet, und obwohl auf ihnen Not, Schmähungen und andere Beschwernisse lasten. Dieser Trost soll ihnen helfen, tapfer und eifrig diese Hindernisse zu überwinden. Wenn man aber überzeugt ist, daß man nicht vergeblich kämpft, fällt auch die geduldige Ausdauer leichter. Um also von dem Hochmut der Gottlosen, die jetzt ihr Spiel mit uns treiben, nicht entmutigt zu werden und um unter dem Druck des eigenen Elends die Hoffnung nicht zu verlieren, müssen wir immer an das Erbe denken, das im Himmel auf uns wartet; denn dieses Erbe hängt nicht von irgendeinem Zufall ab, sondern es wurde uns von Gott bereitet, bevor es uns überhaupt gab. Zugesagt ist das allen Auserwählten, die Christus hier ja als Gesegnete seines Vaters anredet. Der Ausdruck, das Reich sei bereitet von Anbeginn der Welt, deutet nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt, von dem an das Erbe des ewigen Lebens den Kindern Gottes zugewiesen wurde, sondern erinnert uns nur an die väterliche Fürsorge Gottes, mit der er uns umfing, bevor wir geboren waren. Der Ausdruck gibt unserer Hoffnung dadurch feste Gewißheit, daß er unser Leben unabhängig sein läßt von den wechselvollen Ereignissen der Welt.
Matth. 25, 35. „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist.“ Wenn es hier um die Ursache unseres Heils ginge, wäre die römische Kirche vielleicht im Recht mit ihrer Schlußfolgerung, daß wir uns das ewige Leben mit guten Werken verdienen; da aber Christus nichts anderes will als die Seinen ermuntern, mit Eifer richtig und gut zu handeln, so ist es verkehrt, in seinen Worten ein Urteil über die Wirkung und das Verdienst der Werke zu suchen. Wer sie als Ursache des Heils betrachtet, ist auf dem Irrweg, sie sind seine Folge, indem den Gerechten das ewige Leben verheißen wird. Wir leugnen keineswegs, daß den guten Werken ein Lohn verheißen wird; aber dieser Lohn ist ganz unverdient, weil er mit der Kindschaft zusammenhängt. Wenn Paulus sich rühmt (vgl. 2. Tim. 4, 8), ihm sei die Krone der Gerechtigkeit aufbewahrt, so ruht diese Zuversicht einzig darauf, daß er ein Glied Christi ist, der allein der Erbe des himmlischen Königtums ist. Oder wenn er erklärt, jene Krone werde er empfangen von dem gerechten Richter, so erhält er diese Belohnung nur, weil er aus Gnade angenommen und mit der Gerechtigkeit beschenkt ist, die niemand von Natur aus hat. Zwischen den guten Werken und der Berufung der Gläubigen zum Himmelreich besteht also wohl eine Verbindung: aber die Gläubigen nehmen das Reich nicht in Besitz, weil sie es durch die Gerechtigkeit der Werke verdient hätten oder sie selbst das Ganze in die Wege geleitet hätten, sondern weil Gott die rechtfertigt, die er zuvor erwählt hat. Obwohl sie außerdem aus Antrieb des Geistes der Gerechtigkeit nachjagen, erfüllen sie doch niemals Gottes Gesetz vollkommen; darum kann auch niemals von einem Verdienst, sondern muß immer von einem Gnadenlohn die Rede sein. Christus zählt übrigens nicht alle Möglichkeiten auf, die man in einem frommen, heiligen Leben hat, sondern berührt nur als Beispiel einige Pflichten der Liebe, mit denen w bezeugen, daß wir Gott lieben. Zwar steht die Liebe zu Gott über der Nächstenliebe, und Glaube und Gebet sind deshalb wichtiger als Almosen; dennoch hebt Christus mit Recht solche Beweise wahrer Gerechtigkeit hervor, die jedem besser in die Augen fallen. Würde einer Gott verachten und nur gegen die Menschen wohltätig sein, so würde ihm all diese Barmherzigkeit nicht das Wohlgefallen Gottes einbringen, weil er ihn um sein Recht betrog. Christus sieht also das Wichtigste bei der Gerechtigkeit auf keinen Fall in den Almosen; aber er zeigt gewissermaßen an Aushängeschildern, was es bedeutet, fromm und gerecht zu leben. Es genügt eben nicht, wenn die Gläubigen mit dem Mund bekennen, sondern sie sollen an ernstgemeinten Taten zeigen, daß sie Gott wirklich lieben. Fanatische Menschen drehen den Spieß nun wieder herum und entfernen sich unter Berufung auf diese Stelle heimlich vom Hören des Wortes, dem Abendmahl und den übrigen geistlichen Übungen; unter dem gleichen Vorwand wollen sie auch nichts mehr vom Glauben, dem Aushalten unter dem Kreuz, dem Gebet und der Keuschheit wissen. Dabei wollte Christus doch nichts weniger als die Richtschnur zum Leben, die in beiden Gesetzestafeln enthalten ist, allein auf die Beachtung der zweiten Tafel beschränken. Sehr töricht machen sich auch die Mönche und ähnliche Zungendrescher sechs Werke der Barmherzigkeit zurecht, weil Christus nicht noch mehr erwähnt; als ob es nicht schon einem Kind einsichtig wäre, daß in dieser Auswahl alle Pflichten der Liebe gemeint sind. Denn die Trauernden trösten, ungerecht Leidenden zu Hilfe eilen, den Unerfahrenen mit Rat zur Seite stehen und die Unglücklichen dem Rachen der Wölfe zu entreißen ist ein ebenso lobenswerter Barmherzigkeitserweis wie Nackte kleiden und Hungernden zu essen geben. Indem Christus also mit der Anweisung zur Nächstenliebe die Pflichten, die mit dem Gottesdienst zusammenhängen, nicht ausschließt, schärft er hier seinen Jüngern ein, das sei der wirkliche Beweis für ein heiliges Leben, wenn sie sich in der Liebe übten, ähnlich wie in dem Prophetenwort (Hos. 6, 6): „Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer." Aus diesem Grund legen auch die Heuchler, wenn sie geizig, grausam, betrügerisch und raubgierig sind, auf eine geordnete Abfolge der Zeremonien solchen Wert, allerdings nur in einem sehr trügerischen Gepränge. Wenn also dem höchsten Richter unser Leben gefallen soll, dürfen wir nicht unseren Hirngespinsten nachgehen, sondern sollen lieber zusehen, was er besonders von uns fordert. Denn wer von seinem Gebot abweicht, mag sich noch so sehr mit selbstersonnenen Werken bemühen, am Jüngsten Tag muß er doch hören: „Wer forderte solches von euren Händen?" (Jes. 1, 12).
Matth. 25, 37. „Dann werden ihm die Gerechten antworten.“ Die Frage der Gerechten lautet so, als wüßten sie nicht, daß Christus alles, was Menschen angetan wird, als ihm selbst geschehen ansieht. So stellt es uns Christus anschaulich dar, weil diese Wahrheit bei uns nicht so fest verwurzelt ist, wie sie es sein sollte. Denn wenn wir so zögernd und säumig im Wohltun sind, so kommt das daher, daß uns jene Verheißung zuwenig gegenwärtig ist, Gott werde uns einmal mit Zinsen vergelten, was wir an den Armen tun. Die Verwunderung der Gerechten, wie sie Christus hier schildert, soll uns daran erinnern, daß hier unser eigener Maßstab nicht ausreicht: immer wenn unglückliche Brüder unser Vertrauen und unsere Hilfe erflehen, darf uns nicht der Anblick eines verachteten Menschen am Wohltun hindern.
Matth. 25, 40. „Wahrlich, ich sage euch.“ Nachdem Christus zuerst in einem Bild gezeigt hat, daß unsere Sinne nicht fassen können, wie sehr er die Taten der Liebe schätzt, bezeugt er nun mit klaren Worten, daß er alles, was wir an den Seinen tun, als ihm selbst getan betrachtet. Wir aber müssen mehr als gleichgültig sein, wenn wir nicht zu tiefstem Mitleid bewegt würden durch die Erklärung, daß Christus vernachlässigt bzw. ihm in der Person der Menschen gedient wird, die unsere Hilfe brauchen. Sooft wir also zu träge sind zum Helfen sollen wir an den Sohn Gottes denken, dem wir nur unter tiefster Verschuldung etwas verweigern können. Zugleich lernen wir aus diesen Worten, daß er nur die Taten anerkennt, die umsonst und ohne Schielen auf Belohnung getan sind. Denn wenn er uns befiehlt, den Hungernden und Nackten, den Fremden und Gefangenen Gutes zu tun, von denen man doch keine Vergeltung erwarten kann, müssen wir auf ihn allein blicken, der sich uns freiwillig zum Schuldner machte und in seine eigene Rechnung stellen läßt, was sonst als Verlust für uns erscheinen könnte. Übrigens legt uns Christus hier allein seine „Brüder“, d. h. die Gläubigen, ans Herz, nicht weil wir die andern völlig übergehen sollten, sondern weil uns der Nächste um so lieber sein muß, je enger er in Gemeinschaft mit Gott lebt. Denn obwohl alle Kinder Adams gemeinschaftlich miteinander verbunden sind, knüpft doch Gottes Kinder ein besonders heiliges Band zusammen. Da nun also die Hausgenossen im Glauben den Außenstehenden vorangehen sollen, hebt Christus sie besonders hervor. Christus will zwar zuerst die Reichen und die, denen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, aufrufen, den Brüdern zu helfen; zugleich aber findet sich in seinen Worten auch ein kräftiger Trost für die Armen und Mittellosen: mögen sie auch von der Welt geschmäht und verstoßen sein, der Sohn Gottes hat sie so lieb wie seine eigenen Glieder, ja, indem er sie Brüder nennt, beschenkt er sie mit einer Ehre, die kaum zu fassen ist.
Matth. 25, 41. „Geht hin von mir, ihr Verfluchten.“ Nun wendet Christus sich zu den Verworfenen, die ihr vergängliches Glück so trunken macht, daß sie wähnen, sie müßten für immer glücklich sein. Ihnen bezeugt er, er werde als der Richter kommen, der sie aus ihren Wonnen aufschreckt, in die sie jetzt versunken sind. Dabei meint er nicht, daß dieses Wort von seinem Kommen die Gottlosen erschrecken könnte; denn sie haben gewissermaßen einen Vorhang von Sicherheit um sich gezogen und glauben einen Pakt mit dem Tode zu haben; wohl aber sollen die Gläubigen durch ihr schauerliches Ende gewarnt werden, sie um ihr jetziges Los zu beneiden. Denn wie wir Verheißungen brauchen, die uns zum Eifer um ein gutes Leben antreiben, so brauchen wir auf der andern Seite auch Drohungen, die uns in Zucht und Furcht halten. Es wird uns also gezeigt, wie wichtig die Gemeinschaft mit dem Sohn Gottes für uns ist; denn ewige Qualen warten auf die, die er am Jüngsten Tag von sich weisen wird. Er wird dann befehlen, daß die Gottlosen von ihm weggehen; jetzt stecken nämlich noch viele Heuchler unter den Gerechten, so daß es so aussieht, als hätten auch sie Gemeinschaft mit Christus. Mit dem Feuer wird im Bild ausgedrückt, wie schwer die Strafe sein soll, nämlich daß sie all unser Empfinden übersteigt. Darum ist es überflüssig und spitzfindig, über die Beschaffenheit oder die Form dieses Feuers nachzudenken; denn aus demselben Grund müßte man dann auch über den Wurm sprechen, den Jesaja (vgl. 66, 24; 30, 33) in einem Atemzug mit dem Feuer nennt. Außerdem geht auch aus Jes. 30, 33 hervor, daß das Feuer ein Bild ist: der Geist des Herrn wird dort mit einem Windhauch verglichen, der das Feuer entfacht und Schwefel beimischt. Diese Ausdrücke sollen also das künftige Gericht Gottes über die Gottlosen beschreiben, das uns mehr mit Schrecken erfüllen muß, als wir überhaupt begreifen können. Wichtig ist noch, daß ebenso wie die den Gläubigen verheißene Herrlichkeit auch das Feuer ewig andauern wird.
„Das bereitet ist dem Teufel.“ Christus stellt sich dem Teufel gegenüber gewissermaßen als dem Anführer aller Verworfenen. Denn obwohl alle Teufel abgefallene Engel sind, so wird doch an vielen Stellen der Schrift einer als das Haupt vorgestellt, der unter sich alle Gottlosen gewissermaßen in einen Leib zu ihrem Untergang versammelt, ähnlich wie die Gläubigen unter Christus zusammen in das Leben hineinwachsen, bis sie das Ziel erreichen und durch ihn völlig an Gott gebunden werden. Die Erklärung Christi, dem Teufel sei das ewige Feuer, die Gehenna, bereitet, nimmt den Gottlosen jede Hoffnung auf ein Entkommen, da sie ja mit dem Teufel zu derselben Strafe verdammt sind, der ganz gewiß ohne irgendeine Hoffnung auf Befreiung für die Gehenna bestimmt ist. „Engel des Teufels" sind nach Christi Meinung nicht die bösen Menschen, sondern nur die Dämonen. Auf diese Weise liegt in seinen Worten ein versteckter Vorwurf, daß nämlich Menschen, die durch das Evangelium zur Hoffnung auf das Heil gerufen wurden, es vorziehen, zusammen mit dem Satan unterzugehen, den Bringer des Heils zu verschmähen und sich freiwillig einem solch furchtbaren Schicksal auszuliefern. Es ist nicht so, daß sie weniger dem Verderben geweiht wären als der Teufel; aber in ihrer Sünde tritt deutlich die Ursache ihres Untergangs zutage, nämlich daß sie sich gegen den Ruf der Gnade taub stellten. Obgleich also die Verworfenen schon vor ihrer Geburt durch Gottes verborgenes Gericht für den Tod bestimmt sind, so werden sie doch, solange sie leben, nicht als Erben des Todes oder Satans Genossen angesehen; aber in ihrem Unglauben wird der Fluch deutlich, der im verborgenen auf ihnen lastete.
Matth. 25, 44. „Da werden sie ihm auch antworten.“ Genau wie vorher die Gerechten läßt Christus auch die Ungerechten antworten, und zwar sollen alle Gottlosen wissen, daß ihnen am Jüngsten Tag alle leeren Vorwände nichts mehr nützen, mit denen sie sich jetzt selbst betrügen. Denn ihr grausamer Hochmut gegenüber den Armen hat seinen Grund darin, daß sie meinen, sie ungestraft verachten zu können. Damit sie sich nicht länger selbst belügen, erklärt ihnen der Herr, daß sie eines Tages, allerdings dann aber zu spät, erkennen werden, was sie jetzt der Überlegung nicht für wert halten, daß Christus selbst nämlich die Armen, die jetzt so übergangen scheinen, so hoch schätzt wie seine eigenen Glieder.
Aus: Otto Weber, Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Dreizehnter Band: Die Evangelien-Harmonie 2. Teil, Neukirchener Verlag, 1974, S. 292ff.
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