„... denn er ist wie du ...“

Das Andacht zum Gebot der Nächstenliebe - in christlicher und jüdischer Auslegung


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Calvin erklärte, Mose wolle die Menschen „vor übergroßer Selbstsucht heilen“ und stellte darum „den Nächsten mit uns auf die gleiche Stufe“. Und Rabbi Akiba übersetzte 3. Mose 19,18: „Liebe deinen Nächsten — tue Gutes ihm zum Wohle, denn er ist wie du.“

Du und ich, Sie und wir — wir sind verschieden. Frauen und Männer, Kinder, Erwachsene, Alte. Wir sind uns nahe, sind uns Nächste. Wir sind uns fern und fremd. Wir sind verschieden in unseren Stärken und Schwächen, Ängsten und Freuden. Wir unterscheiden uns in unserem Denken und Fühlen, Aussehen und Handeln, in dem, was und wie wir glauben: Deutsche und Ausländer, Asylbewerber und Neonazis, Israelis und Palästinenser.

weahavta lereacha kamocha — »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, so übersetzt Luther (wie viele vor und nach ihm) diesen Vers aus der Hebräischen Bibel. »Liebe deinen Nächsten — deine Nächste (fügen wir heute hinzu) wie dich selbst.« Wer ist der Nächste? Nur der Volksgenosse oder auch der Fremde, gar der Feind? Wie steht es um das Verhältnis von Gottesliebe und Menschenliebe? Und vor allem: Was meint dieses »wie dich selbst« — griechisch hoos seauton, lateinisch sicut te ipsum?

Darüber haben christliche Theologen im Laufe der Kirchengeschichte viel nachgedacht. Und sie waren sich darüber weithin einig: Bei dem »wie dich selbst« geht es um die Frage der Selbstliebe. Selbstliebe sei wichtig, ja sogar geboten. In der römisch-katholischen Auslegungstradition war dies unumstritten. Freilich bezog man dies Gebot nicht einfach auf das naturhafte Ich, das bloße Ego, sondern auf das von Gott begnadete Ich. Nach Augustinus gibt es eine vierfache Rangordnung der Liebe: Zuoberst steht die Liebe des Menschen zu Gott, dann folgt die Liebe zu sich selbst, danach kommt die zum Nächsten und schließlich die zum eigenen Leib.

Das blieb auf protestantischer Seite nicht unwidersprochen. Gegen alles »törichte Geschwätz auf der Sorbonne« hielt Calvin zu unserem Vers fest, »daß Mose die Menschen gerade vor übergroßer Selbstsucht heilen wollte« und darum »den Nächsten mit uns auf die gleiche Stufe stellte«. Erfasste also »wie dich selbst« als Hinweis auf die sündige Eigenliebe auf, die uns Menschen voneinander trennt. Auch nach Luther wird in dem »wie dich selbst« nicht die Selbstliebe geboten, sondern als sündige Liebe entlarvt, als die Liebe, mit der der Mensch bei sich selbst bleibt, ganz in sich verkrümmt und der Selbstliebe zugewandt ist.

Nach den Reformatoren ist Selbstliebe also gerade die Haltung des sündigen Menschen, ja der Inbegriff der Sünde. Dass diese protestantische Selbstverneinung krank machen kann, darauf haben in unserer Zeit Psychologen und feministische Theologinnen aufmerksam gemacht und gefordert, Selbstliebe und Selbstsucht zu unterscheiden. Die Bejahung des eigenen Lebens, des eigenen Glücks und Wachstums und der eigenen Freiheit gehört gerade zur Liebesfähigkeit des Menschen. Besitzgierige Selbstsucht hingegen kann umgekehrt geradezu die Folge davon sein, dass es an Selbstliebe fehlt.

Wir sehen, mit dem uns vertrauten »wie dich selbst« lassen sich viele unterschiedliche, sogar einander entgegengesetzte Standpunkte vertreten.

Auf eine andere Spur führt uns der hebräische Urtext weahavta lereacha kamocha. kamocha, eine Reihe jüdischer Bibelausleger übersetzen das mit »denn er ist wie du«.

Er, der Nächste, der Fremde, ist wie du. Geht das, obwohl die Ausprägungen unseres menschlichen Lebens so mannigfaltig sind? Wenn wir nach außen wie innen so verschieden sind, worin sind wir gleich? Wie ist das mit dem »Wie du«, damals und heute? Wie ist das mit dieser Identität des »wie du«? Zwang zur Identität, dem alles Differente geopfert wird? So wie bei der Forderung nach einer Leitkultur oder gar der deutschen Leitkultur, wenn das Differente dem vermeintlich Identischen unterworfen wird, weil der/die Andere als fremd und bedrohlich empfunden wird?

»Geliebt ist der Mensch«, sagt Rabbi Akiba, »geliebt ist der Mensch, denn er ist geschaffen im Bilde [Gottes]. Noch größere Liebe ist es, dass ihm kundgetan wurde, dass er im Bilde [Gottes] erschaffen wurde, wie gesagt ist: 'Denn im Bilde Gottes schuf er den Menschen [1. Mose 1,27]'.« (Mischna Avot 3,14)

In diesem Spruch wird das biblische Verständnis vom Menschen zusammengefasst. Was bedeutet das, dass der Mensch im Bilde Gottes, nach Gottes Bild geschaffen ist?

Abraham Joschua Heschel weist darauf hin, dass das Wort »Bild« und das damit zusammenhängende Wort »Gleichnis« mehr verhüllen als enthüllen. Was diese Worte bedeuten, können wir weder begreifen noch können wir ihnen folgen. Denn was ist Gottes Bild, was sein Gleichnis? Gibt es etwas im Menschen, das mit Gott verglichen werden kann? Unsere Augen sehen es nicht, unser Verstand begreift es nicht. Buchstäblich genommen erscheint dieses Bibelwort unsinnig, ja geradezu gotteslästerlich.

Und doch enthält es das wichtigste, was über den Menschen gesagt werden kann. Bild (zelem) und Gleichnis (demut) sind nicht »mit einer bestimmten Beschaffenheit des Menschen gleichzusetzen wie Vernunft und Sprache, seiner Macht oder seinem Erfindungsreichtum«. Es geht nicht um etwas, was in späteren Denksystemen »das Beste im Menschen« heißt, den göttlichen Funken, den ewigen Geist, die unsterbliche Seele im Menschen. Nein, es ist der ganze Mensch, und es ist jeder Mensch, der im Bilde und nach dem Gleichnis Gottes geschaffen ist.

Es geht sowohl um seinen Leib wie um seine Seele, sowohl um die Narren wie die Weisen, die Heiligen wie die Sünder, die Fröhlichen wie die Traurigen, die Menschen in ihrer Rechtschaffenheit wie in ihrer Bosheit. Das Bild Gottes ist nicht irgendwo im Menschen, es ist der Mensch selbst. Die Rabbinen lassen sich kaum auf die Frage ein, was mit »Bild Gottes« gemeint sei. Sie finden keine Philosophie in diesem Begriff, sondern einen Auftrag. Und dieser Auftrag heißt:

weahavta lereacha kamocha — »Liebe deinen Nächsten, deine Nächste, denn er, denn sie ist dir gleich.«

Auf Befehl ein Gefühl zu erzeugen, ist schwierig, ist geradezu unmöglich. Wie soll das gehen, auf Befehl einen Nächsten zu lieben?

Auch hier ist es wieder hilfreich, wenn wir auf den hebräischen Urtext achten. Es heißt dort nicht — darauf hat Martin Buber mit Nachdruck hingewiesen — »man solle jemanden lieben, sondern man solle jemandem lieben«. Mit dieser eigentümlichen Konstruktion im Dativ statt im Akkusativ — sie findet sich in der Bibel nur an unserer Stelle und in dem kurz darauf folgenden, genau entsprechend formulierten Gebot der Fremdenliebe — mit dieser eigentümlichen Konstruktion ist ein besonderer Akzent gesetzt.

Durch den Dativ ist der Ton auf das Tun gelegt: jemandem Liebe erweisen, jemandem Gutes tun, jemandem gegenüber liebevoll handeln. Das heißt, das Gebot der Nächstenliebe zielt nicht auf Gefühl, sondern auf Handeln. In der Tat, Liebe als Gefühl lässt sich nicht vorschreiben, aber Liebe als liebevolles Zugehen auf den Nächsten, als tatkräftiger Einsatz für den Nächsten, das lässt sich recht wohl gebieten. Nächstenliebe meint solidarisches, gemeinschaftsbezogenes Verhalten, nicht Gefühl oder gar Gefühlsseligkeit. Und so haben es auch die Rabbinen verstanden, wenn sie das Gebot der Nächstenliebe umsetzen in die Aufforderung:

»So wie Gott die Nackten kleidet, so kleide auch du die Nackten. So wie er die Toten begräbt, so begrabe auch du die Toten. So wie er die Trauernden tröstet, so tröste auch du die Trauernden.« Und so hat es Rabbi Akiba gemeint, wenn er das Wort aus 1. Mose 1,27 vom Geschaffensein des Menschen nach dem Bilde Gottes als Zeichen der Liebe Gottes zum Menschen verknüpft mit dem, was in 3. Mose 19,18 geboten ist: »Liebe deinen Nächsten — tue Gutes ihm zum Wohle, denn er ist wie du.« Er ist dir gleich, fehlbar, nicht vollkommen, sterblich, hilfsbedürftig, auf andere angewiesen. Gottesliebe und Menschenliebe erschöpfen sich nicht im Gefühl, sie werden konkret. Gottesliebe konkretisiert sich in der Menschenliebe, in der Liebe zum Nächsten, der Hilfe braucht.

weahavta lereacha kamocha — »Liebe deinen Nächsten, deine Nächste, er, sie ist dir gleich.« Das heißt dann:

Wir gehen hinein in die uns von Gott mit der Existenz des Nächsten gesetzte Zukunft — wir unterziehen uns einer Ordnung, in der Andere an unserer Seite stehen, manchmal uns fremd, je in ihrer Eigenart eigen, alle von Gott geliebt. Wir nehmen die Wohltat an, die Gott uns damit erweist, dass er uns nicht allein lässt, sondern uns Nächste an die Seite gibt. Und das heißt dann:

Wir lassen uns die Existenz des Nächsten gefallen, und wir haben Freude daran, dass Gott uns so und nicht anders will, dass wir mit den Anderen als den Nächsten zusammenleben, mit dem Auftrag, unter der Weisung, für sie einzustehen, ihnen Gutes zu tun.

Und damit wird dann deutlich, was das Ziel und die Fülle seines Reiches ist, das so zeichenhaft und vorscheinhaft in diese noch unerlöste Welt einbricht, wenn Sorge, Not, Angst und Leid des Anderen, der Anderen uns bestimmen.

 

Quelle: "...denn er ist wie du", Themenheft 2001, hrsg. v. Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR), Bad Nauheim.


Katja Kriener