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Die Arbeiter im Weinberg - ein Gleichnis vom Himmelreich am Sonntag Septuagesimä, dem Internationalen Holocaust-Gedenktag 27. Januar 2013
Predigt und Liturgie von Pfr. Prof. Dr. Klaus Müller, Heidelberg
Liturgieentwurf
Predigt zu Matthäus 20,1-16
Liebe Gemeinde!
Der Sonntag mit der biblisch runden Zahl Siebzig - Sonntag Septuagesimä. In mancherlei Hinsicht ein besonderer Sonntag. 70 Tage vor Ostern. Ein Sonntag, der in besonders konzentrierter Weise zum Innehalten einlädt zwischen Kommen und Gehen, zwischen dem Kommen Jesu, das wir an Weihnachten und Epiphanias feiern, und dem Gehen, seinem Gehen ans Kreuz, das wir in den Wochen der Passionszeit bedenken bis Ostern. Zwischen Kommen und Gehen ein Sonntag der Konzentration – auf das Wichtigste. Auf das Himmelreich, das Gott der Welt in Aussicht stellt.
In diesem Jahr liegt auf diesem Tag der Schatten von Auschwitz, dem Tiefpunkt der neueren Menschheitsgeschichte – wir gedenken heute der Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft. Der Tag der Befreiung von Auschwitz öffnet den Blick für diejenigen, denen Freiheit, Würde und Leben genommen wurde.
Ein weiterer Gedankenfaden an diesem Sonntag: Über das neue Jahr 2013 hat die evangelische Kirche die Überschrift „Reformation und Toleranz“ gestellt – wo doch die Religionsgeschichte, auch die Kirchengeschichte viel eher geprägt war und noch ist von „Religion und Intoleranz“, „Religion und Missgunst, Hass und Neid.“ Am 27. Januar entscheiden sich nicht zuletzt auch Toleranz oder Nicht-Toleranz zwischen den Kulturen und Religionen.
Der Sonntag „70“ hat ein Evangelium, eine Botschaft, in der sich Gottes Himmel verdichtet - und ein Evangelium, in dem auch die Schuld und Versagen hier auf Erden nicht übersehen werden.
Textlesung: Die Arbeiter im Weinberg - ein Gleichnis vom Himmelreich.
„Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer, der früh am Morgen sein Haus verließ, um Arbeiter für seinen Weinberg anzuwerben. (2) Er einigte sich mit den Arbeitern auf einen Denar für den Tag und schickte sie in seinen Weinberg. (3) Um die dritte Stunde ging er wieder auf den Markt und sah andere dastehen, die keine Arbeit hatten. (4) Er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg! Ich werde euch geben, was recht ist. (5) Und sie gingen. Um die sechste und um die neunte Stunde ging der Gutsherr wieder auf den Markt und machte es ebenso. (6) Als er um die elfte Stunde noch einmal hinging, traf er wieder einige, die dort herumstanden. Er sagte zu ihnen: Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum? (7) Sie antworteten: Niemand hat uns angeworben. Da sagte er zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg! (8) Als es nun Abend geworden war, sagte der Besitzer des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und zahle ihnen den Lohn aus, angefangen bei den letzten, bis hin zu den ersten. (9) Da kamen die Männer, die er um die elfte Stunde angeworben hatte, und jeder erhielt einen Denar. (10) Als dann die ersten an der Reihe waren, glaubten sie, mehr zu bekommen. (11) Da begannen sie über den Gutsherrn zu murren, (12) und sagten: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgestellt; wir aber haben den ganzen Tag über die Last der Arbeit und die Hitze ertragen. (13) Da erwiderte er einem von ihnen: Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? (14) Nimm dein Geld und geh! Ich will dem letzten ebensoviel geben wie dir. (15) Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder bist du neidisch, weil ich gütig bin? (16) So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.“
Gott ruft in seinen Weinberg – das ist das bewegende Moment in dieser Geschichte über die Zeiten hinweg: dass Gott nicht der ruhende Pol irgendwo in weiter Ferne bleibt, sondern ein Gott der Kreise zieht und Menschen in seine Nähe ruft. Und was er zu verteilen hat am Schluss ist das Eine: Leben im Angesicht seiner Gerechtigkeit und Güte. Variabel sind die Zeiten und diejenigen, die gerufen werden, die Arbeiter auf dem Gottesacker durch die Zeiten hindurch mit all ihren Unterschieden, die es nur geben kann in Kultur, Sprache, Bildung und religiösen Ausdrucksformen.
Der gleichnishafte Weinberg – Lebensraum all der Religionen, die von sich sagen: Wir glauben an den einen Gott. Hören wir diese Geschichte heute einmal als eine Modellgeschichte für das Verhältnis unter den Religionen, aber auch als ein Spiegelbild der Konfliktgeschichte, die zwischen den verschiedenen Gruppen und Akteuren da entbrennen kann.
Ich habe nachgezählt: Fünfmal geht der Besitzer des Weinbergs hinaus, um Arbeiter anzustellen. Ich will mit ihm und mit Ihnen, liebe Gemeinde, die fünf Male mitgehen in die Welt der Religionen und sehen was geschieht.
Eine erste Einladung:
Er nannte sich Echnaton. Pharao von Ägypten und Gemahl der legendär schönen Nofretete. Echnaton sieht in Gott die eine kosmische Macht, die sich als Sonne und Licht den Menschen mitteilt. Echnatons Offenbarung gründet in der Erkenntnis, dass sich alles, die gesamte sichtbare und unsichtbare Wirklichkeit, auf das Wirken von Licht und Zeit, und damit auf die Sonne, zurückführen lässt. Echnaton glaubte, das eine Prinzip entdeckt zu haben, aus dem die Welt hervorging und täglich neu hervorgeht. Und diese Erkenntnis hat Echnaton in seinem Reich mit der Gewalt eines pharaonischen Alleinherrschers durchgesetzt; kein anderer Glaube durfte daneben bestehen bleiben. Nun gibt es zum ersten Mal in der Religionsgeschichte die Unterscheidung zwischen richtig und falsch. Jetzt ist mit der Verehrung des einen Gottes auch der Anspruch auf die alleinige Wahrheit und die religiöse Intoleranz auf die Welt gekommen. Oder anders gesagt: Zum ersten Mal kommt Streit und Konflikt in Gottes Weinberg. Pharao Echnaton stirbt im Jahre 1334 vor der christlichen Zeitrechnung. Seine Nachfolger gehen ganz schnell unter großem Aufatmen des Volkes wieder zur alten Religion der vielen Götter zurück.
„Und der Weinbergbesitzer ging wieder aus um Arbeiter für seinen Weinberg zu bestellen.“ Die zweite Runde:
Als der Sonnenverehrer in Ägypten vor fast 3 ½ Tausend Jahren stirbt, hat sich schon auf dem gegenüberliegenden Ende der damals bekannten Welt einer auf den Weg gemacht um den einen Gott zu erkennen und sich senden zu lassen in den Weinberg Gottes. Abraham aus Ur in Chaldäa, im Land zwischen den zwei Strömen unweit von „Bagdad“, wird von Gott aus seiner Welt der vielen Götter herausgerufen in ein Land, das Gott ihm zeigen werde. „Geh in meinen Weinberg!“ Und Abraham geht. Er und seine Frau Sara. Und seine ägyptische Nebenfrau Hagar. Dieser Weg ist der Beginn der biblischen Bundesgeschichte. Die kann ich jetzt nicht ausführlich nacherzählen. Dafür gibt’s die Heilige Schrift zum Nachlesen ab dem 12. Kapitel im ersten Buch der Bibel. Jedenfalls hatte Abraham zwei Söhne: sozusagen einen jüdischen und einen arabischen. Der „jüdische“ Sohn Isaak und der „arabische“ Sohn Ismael. Geboren vom selben Vater Abraham, doch der eine von der Mutter Sara und er andere von der Mutter Hagar. Die Rechtsverordnung der Monogamie war noch nicht erlassen. Es hätte eine heilige Familie sein können in Gottes Weinberg, mit genug Platz auch für die Nomadenherden Isaaks und Ismaels und deren Kinder und Kindeskinder. Aber man streitet sich um das Erbland. Futterneid, ganz handfest und auch religiös. Seit damals bis heute. „Weinberg“ – das Terrain, auf dem das Ganze spielt ist Heiliges Land – gefangen in einem zutiefst unheiligen Streit. Wer hat mehr zu erwarten vom Weingärtner: Ich oder mein Halbbruder? Ich natürlich! „Und sie murrten wider den Weinbergbesitzer“, wie im Gleichnis am Sonntag Siebzig. Und es bleibt nicht beim Murren, sondern man geht aufeinander los mit den Winzermessern und Sicheln, die eigentlich zur Kultivierung des Weinbergs gedacht waren. Die Kultur weicht dem Kulturkampf, der Kult zu Ehren des einen Gottes wird zu einem einzigen Schauspiel der Rechthaberei. Heiliger unheiliger Gottesacker!
Unterdessen – der Weinbergbesitzer ruft zum dritten Mal – zieht Mose mit seinem Volk unter dem Geleit Gottes ins Heilige Land. Bebaut und besiedelt den Gottesberg. Ein Tempel wird errichtet, später durch König Salomo, im Mittelpunkt des Landes, in dem Gott wohnt und sich dienen lässt. Viel, viel später setzen die Nachfahren des anderen Sohnes, des arabischen von der Hagar, an die gleiche Stelle eine wunderschöne Moschee. Sie folgen mittlerweile einem anderen Propheten, Mohammed, der vom jüdischen Tempelplatz mit seiner Wunderstute Barak die Himmelsreise angetreten hat. Seitdem ertönt von dort her, wo früher die Leviten Psalmen gesungen haben, das Bekenntnis zu dem einen großen Gott in arabischer Sprache. Allah hu akbar. Und zuweilen mischt sich dieser Ruf mit furchterregenden Nebentönen, die nicht im Sinne des Propheten sind und schon gar nicht im Sinne Gottes. Es ist ziemlich unübersichtlich geworden im Weinberg Gottes. Nach wie vor wird die Kultivierung des Weinbergs vernachlässigt vor lauter Streit der Kulturen. „Und sie murrten gegeneinander und gegen den Weinbergbesitzer!“
Aber nun: uns gibt es ja auch noch, liebe Christengemeinde am Sonntag zwischen Kommen und Gehen. Unter allen, die Gott anrufen, den Einen und Ewigen, gibt es auch sie: die Jüngerinnen und Jünger Jesu von Nazareth. Die christliche Kirche. In meiner Zählung nun die vierte Runde des göttlichen Werbens um Arbeiter im Gottesacker (obwohl natürlich, das weiß jedes Kind, runde 600 Jahre vor den Mohammednachfolgern): „Geht ihr auch hin in meinen Weinberg!“ Fleisch und Blut geworden ist Gottes Einladungsruf in Jesus Christus, überbracht durch seinen geliebten Sohn. Und viele, viele kamen. Über all die Jahrhunderte hinweg, bis heute am Sonntag Septuagesimä 2013. Eine Chance, dass der Weinberg heiliger würde?!
Was könnte man nicht alles entdecken aneinander und miteinander, wenn man nur einmal aufeinander achten und einander wahr-nehmen würde. Da könnte man staunen darüber, dass der Sonnengesang des Echnaton verblüffend nahe steht dem biblischen Psalm 104, den die Juden bei Tisch und die Christen beim Erntedankfest in der Kirche beten. Dass Jesus das jüdische Grundbekenntnis „Höre Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist Einer“ in die Messiasgemeinde hinein weitergegeben hat. Dass im Heiligen Buch des Koran Jesus hoch gepriesen wird und Mose und Maria und überhaupt alle, die aus der heiligen Bibel lesen. Unglaubliche Entdeckungen. Doch statt die gemeinsamen Beziehungen zu kultivieren steuern die Arbeiter im Weinberg geradewegs in einen abgrundtiefen Konflikt hinein. Dieser Streit sollte der bitterste und tödlichste werden, den die Menschheits- und Religionsgeschichte je gekannt hat. „Und sie murrten wider den Weinbergbesitzer“. Wer? In meiner heutigen Lesart der Geschichte nun: Die jung dazu Gekommenen gegen die Alten. Das junge Christentum rebelliert gegen das alte Judentum – denen soll derselbe göttliche Lohn werden wie uns?! Der Erbstreit um den Weinberg war voll entbrannt. Wir, die Christen, sind die einzig legitimen Erben, tönte es von den Kanzeln und aus den theologischen Journalen. Die alten Schriften, Gottes Liebeslieder geschrieben an sein Volk, erhalten in dem Buch, das wir Altes Testament nennen und die hebräische Bibel der Juden ist – wir nehmen sie für uns in Anspruch, und zwar für uns ganz allein. Wir Christen haben diese Briefe Gottes an Israel geöffnet und zuweilen einfach den Adressaten vertauscht: „Strg delete Israel“ und „Strg einfügen Kirche“! Wir sind das neue Israel – das alte hat seine Schuldigkeit getan, es kann verschwinden aus Gottes Weinberg – geistig-ideell als Religion abtreten und leiblich-physisch in den Massengräbern von Treblinka zugrunde gehen oder aufsteigen in den Rauchwolken über den Krematorien von Auschwitz-Birkenau. Unsere Kirche hat so furchtbar wenig diesem Geschehen von damals entgegenzusetzen gehabt! Darüber können auch einzelne Namen wie Hermann Maas nicht hinweg täuschen. Es gibt einen christlichen Anteil am Holocaust.
In der Aufarbeitung dieses Grauens sind wir wichtige Schritte voran gekommen und das Gedenken am 27. Januar gehört gewiss dazu – aber solange 20% der Bevölkerung der BRD noch latent antisemitisch denken, ist noch viel zu tun. Und in kirchlichen Kreisen seien es, so sagt der jüngste Antisemitismusbericht der Bundesregierung, noch mehr. „Nur wenn die Kirche kapiert, dass sie ein Teil des Problems ist, wird sie zu seiner Lösung beitragen können.“
Ein weiteres Mal wird er noch hingehen, der Weinbergbesitzer im Gleichnis. Das fünfte Mal Hingehen steht noch aus. Sozusagen 5 vor 12 oder eine Stunde vor Feierabend. Da will ich gar nicht weiter spekulieren. Lassen wir uns überraschen, wen Gott noch in seinen Weinberg rufen wird – angesichts solcher Gottesjünger in einer langen Menschheitsgeschichte.
Die Szene der Lohnverteilung - auf die gehen wir letztlich noch zu – ein einziges großes Gleichnis für die Inkraftsetzung der gerechten Güte Gottes. Sie gerät immer wieder zur Konfliktgeschichte. An der wir bis heute leiden. Wo der eine Gott seine eine Münze des Lebens für alle austeilt, machen wir daraus eine Leidensgeschichte. Diese Münze ist Gnadenlohn. Sie ist die Währung, die zu einem göttlichen Gedanken passt, wie wir ihn nicht zu träumen wagten. Eine bestimmte Art von Gleichheit soll gestiftet werden im Weinberg. Ein gleiches Verhältnis stiftet dies eine, was sie alle bekommen. Nicht die Gleichheit der Menschen und ihrer Bräuche und Glaubensweisen. Die Gleichheit dessen, was Gott allen zugedacht hat. Die zählt. Und was ist das? Im Gleichnis gesprochen: der eine Denar. So ein Silberdenar - vielleicht so groß und rund wie eine Oblate bei der Heiligen Eucharistie. Denar ist Leben. Das ist wohlbekannt aus der Zeit Jesu: Ein Denar ist ein Tageslohn, den eine Familie braucht zum Lebensunterhalt für einen Tag. Denar ist Leben. Das teilt er aus.
Der gnädige und gerechte Gott kommt am Schluss im Angesicht aller versammelter Religionsvertreter und Kultur-Attachées auf das Elementarste zurück, was es gibt: das Menschsein. Du brauchst den Denar um leben zu können als Mensch. Du bist zuerst Mensch und dann bist du religiöser Mensch – wo du das rumdrehst, wird die Welt bestialisch.
Nehmt die Münze in Empfang, mit der ihr leben könnt. Im Weinberg Gottes wird das Leben ausgeteilt – nicht ein „0,5-Leben“, nicht ein „2,5-Leben“, sondern Leben 1,0. Das reicht für alle. Himmlischer Sozialismus!
Und auf einmal entsteht ein Kreis. Die ganze religiöse Verkrampftheit lockert und rundet sich zu einem Reigen. Es kommt Bewegung ins Spiel und sie tanzen den Reigen nach der Weise: „Der Erste ist der Letzte und der Letzte ist der Erste; denn im Kreis bei Gott ist der Erste nicht voraus und der Letzte nicht zurück.“
Den Text zum Reigenlied habe ich aus der jüdischen Tradition gelernt. Ich finde in einem jüdischen Buch, das man zu den Apokryphen (den Verborgenen Büchern zwischen dem AT und dem NT) zählt, den Gottesspruch:
„Ich mache mein Weltgericht einem Reigen gleich.
Die Letzten sind darin nicht zurück, die Ersten nicht voran.“
Dieses jüdische Wort deutet die Geschichte Jesu und hilft sie zu verstehen.
Schwing das Tanzbein im Reigen, du fanatisierter Islamist; du murrender, wahrheitsbesessener Jesusjünger; du ultra-neo-superorthodoxer Jude; und die Sonnenanbeter sollten sich eh ein bisschen vor zu viel Strahlung in Acht nehmen! Kommt in den Reigen der Religionen! Tanzt, ihr Arbeiter im Weinberg, dass das Land heilig werde und der ganze Erdkreis im Reigen den Himmel abbilde!
Amen.
Predigt von Pfarrer Dr. Klaus Müller am 27. Januar 2013, Johanneskirche Heidelberg
Gott, birg uns im Schutz deines Zuspruchs, wenn die Verzweiflung uns übermannt. Erfülle uns mit neuem Mut und neuen Ideen, um Menschen aus der Gleichgültigkeit zu dir zu bewegen.